M#TTER / 2022
Programmhefttext von Wolfgang MüllerMutter
Edith Müller (20.9.1930 – 7.3. 2019)
Als 14-jähriges Mädchen flüchtete meine Mutter 1944 aus Königsberg in Ostpreußen. Mein Vater, 1922 geboren im tschechischen Liberec, war mit 21 Matrose der Kriegsmarine in Norwegen und wurde 1947 als Minenräumer aus britischer Kriegsgefangenschaft entlassen. 1949 landete er bei VW im niedersächsischen Wolfsburg, wo er 1952 meine Mutter kennenlernte. Durch solche Zufälle kam ich 1957 auf die Welt, wenige Tage nach dem Sputnikschock.
Jeder Mensch wird also rein zufällig irgendwo auf der Welt in Folge unplanbarer Ereignisse geboren. Auf dem Boden eines x-beliebigen Staates. Deshalb macht es keinen Sinn, ein bestimmtes Stück Land als Soldat zu verteidigen oder es zu erobern. Es gehört sowieso niemanden. Falls irgend möglich, ist es sinnvoll, Orte roher Gewalt zu verlassen. Held:innen, Märtyrer:innen und Patriot:innen sehen nur in der Kunst, auf Schlachtgemälden und in Kitschromanen prächtig aus.
Als Fünfjähriger konnte ich über sechzig Volkslieder singen, auswendig mit sämtlichen Strophen. Da meine Stimme als besonders schön empfunden wurde, als klar und hoch, galt ich schnell als Wunderkind. Meine Mutter war sehr stolz und ging gern mit mir in den Föhrenkrug. Das war ein Festsaal im Stadtzentrum gegenüber des Wolfsburger Ratsgymnasiums. Dort traf sich regelmäßig die Ostpreußische Landsmannschaft. Sie hieß zwar Mannschaft, bestand aber ausschließlich aus geflüchteten ostpreußischen Frauen, Müttern und älteren Witwen. Deren Männer waren oft als Soldaten an der Ostfront gefallen. Damit mich alle gut sehen konnten, wurde ich auf einen Stuhl gestellt. Von hier aus sang ich die drei Strophen vom Heidenröslein. Das Gedicht schrieb Goethe 1771, vertont wurde es 1815 von Franz Schubert:
Sah ein Knab' ein Röslein steh‘n, Röslein auf der Heiden, War so jung und morgenschön, Lief er schnell, es nah zu seh‘n, Sah's mit vielen Freuden. Röslein, Röslein, Röslein rot, Röslein auf der Heiden.
Meine Mutter liebte Gesang und war die Altstimme im Chor. Nach meinem Liedvortrag umarmten mich die Flüchtlingsfrauen und pressten ihre mit dicken Bernsteinketten behängten Brüste an meinen Knabenkörper. Das war schön, auch wenn ich immer ein bisschen Angst davor hatte, an ihrer großen Liebe zu ersticken.
Als ich in die Pubertät kam, so mit 14, ging meine Mutter mit mir zu einem Schulpsychologen. Während alle anderen Jungs einen vernünftigen Beruf erlernen wollten, Feuerwehrmann, Bankangestellter oder Elektriker, wollte ihr ältester Sohn unbedingt Künstler werden. Ich war davon überzeugt, nur Künstler seien wirklich frei, müssten nie richtig arbeiten und könnten das tun, wozu sie gerade Lust hätten. Der Psychologe beruhigte sie und sagte, es sei ganz normal, Künstler werden zu wollen: „Ich habe hier doch auch Kunst.“ Er zeigte auf die Reproduktionen der Jean Miro-Grafiken, die die Wände seiner Praxis schmückten.
Ein Jahr darauf, 1972 eroberte Glamrock die Volkswagenstadt. Ich zog mir türkisfarbige Cordhosen an, ließ meine Haare wachsen und färbte sie mit Henna rot. Die Augen umrandete ich mit schwarzem Kajalstift und schoss einen Ohrring durch das Ohrläppchen. Der Song „Schools out!“ von Alice Cooper gefiel mir besonders gut, denn das Ratsgymnasium war der Horror für mich. Rockstars wie David Bowie, Lou Reed und Grace Jones fand ich großartig. Meine Mutter war zwar nicht begeistert, akzeptierte aber alles. Als ich meinem Vater gestand, dass ich verliebt in Marc Bolan sei, meinte er nur: „Das sieht man heute anders.“ Ich war überrascht, die Antwort hätte ich nicht erwartet.
Irgendwann fragte meine Mutter, warum ich bei der Bundeswehr ausgemustert worden sei: „Du bist doch nicht etwa krank, oder?“ Unter der Bezeichnung Leistungs- und Funktionsstörungen sortierte die Musterungskommission damals Drogensüchtige und Schwule aus. Ich fand das super. Verzweifelte Mitschüler baten mich um Hilfe. Mein Nachhilfeunterricht war erfolgreich. Auch sie wurden als leistungs- und funktionsgestört aussortiert.
Fremde Menschen, die ich irgendwo beim Trampen oder zufällig in einer Stadt kennengelernt hatte, konnte ich jederzeit unangemeldet in mein Elternhaus nach Wolfsburg einladen: „Möchten Sie nicht auch etwas mitessen?“, fragte meine Mutter oder: „Do you like to eat with us?“, falls sie Englisch sprachen. Dass das bei den meisten Eltern völlig anders lief, bekam ich erst später mit. Fremde durften da gar nicht erst ins Haus kommen und zum Mittagessen wurde auch niemand eingeladen, im Gegenteil. Die sagten: „So, ich glaube, dein Schulfreund sollte jetzt mal nach Hause gehen, gleich ist Mittagessen.“ Meine Mutter erzählte, dass ostpreußische Flüchtlinge damals von manchen Einheimischen herablassend behandelt worden seien. Also, wenn ihre Mutter, Oma Minna beispielsweise die Leute um nicht mehr benötigte Bettwäsche bat. Regina, meine ältere Schwester ist auch Künstlerin und erforscht unsere Familiengeschichte. Sie führt die Gastfreundlichkeit der Müllers auf Urgroßmutter Amelie Wenk und deren ostpreußisch-italienische Ahnen zurück.
(Amalie Wenk (* 21.April 1873 in Keimen – gest. 4. Juni 1957 in Wolfsburg)
Mein jüngerer Bruder Max wollte ebenfalls auf keinen Fall zur Bundeswehr. Da ich seit 1979 im entmilitarisierten Westberlin lebte, konnte er sich dort der Wehrpflicht entziehen. Er musste nur seinen Wohnort vor Erreichen des 18. Lebensjahres bei mir anmelden, dann würde er als Bewohner der BRD nicht erfasst. Dazu brauchte er als Minderjähriger allerdings die Unterschrift eines Erziehungsberechtigten, also meiner Mutter. Das war kein Problem.
In Westberlin gründete ich 1980 Die Tödliche Doris. Angeregt durch Siegmund Freud schrieb ich den Song Über-Mutti:
Ich bin Ich. Du bist Du. Mein Über-Ich. Es bist nur Du... Über-Mutti klopft an die Tür. Lass mich herein, ich will zu Dir. Und klopft an die Tür. Und klopft an die Tür. Und will nicht zu mir. Und klopft an die Tür. Und will nicht zu mir. Und will nicht zu mir…. Ich öffne sie ihr. Sie steht nicht vor mir. Und steht vor der Tür. Und weil sie nicht rein will, klopft sie an die Tür. Und klopft an die Tür. Über-Mutti will nicht zu mir.
Drei Jahre später bat ich meine Mutter darum, den Song mit mir gemeinsam zu singen. Dafür musste ich ihr das Versprechen geben, den Text nicht so zu schreien wie auf der Tödlichen Doris-Langspielplatte von 1982. Im Kurzfilm „Edith Müller putzt ein Fenster“ aus dem Jahr 1983 singen wir das Lied gemeinsam, ganz sanft und harmonisch. Das Mutter-Sohn-Duett endet mit dem Zusatz „Mit Inge Viett und Betty Barcley auf Du und Du“. Der Film befindet sich heute im Sprengelmuseum und anderen Kunstsammlungen.
(Inge Viett (* 12. Januar 1944 in Stemwarde) ist eine ehemalige Terroristin. Als Mitglied der Bewegung 2. Juni schloss sie sich 1980 der Rote Armee Fraktion (RAF) an und tauchte 1982 in der DDR unter.
Die Betty Barclay Group GmbH & Co.KG ist ein Damenoberbekleidungsunternehmen mit Sitz in Nußloch bei Heidelberg.)
Mit der Tödlichen Doris konnte meine Mutter nichts anfangen. Als ich 1987 eine Einladung nach Tokio erhielt, rief ich sie an: „Stell Dir nur vor, Mutti, ich wurde nach Japan eingeladen, für zwei Konzerte!“ Erstaunt antwortete sie: „…Wie? Mit dieser Musik? Wo du immer so laut schreist? … Und dabei hast Du so eine schöne Stimme.“ Hm, dachte ich. Erst Jahre später fiel mir auf, dass ich die Musik, die meine Mutter am liebsten hörte, auch ganz schrecklich fand. Die volkstümliche Musik von Maria und Margot Hellwig, das ist doch scheußlich. Also, Kinder können den Geschmack ihrer Mutter hassen und sie trotzdem lieben. Und umgekehrt ist es ganz ähnlich.
Als unsere Mutter einmal meinen fünf Jahre jüngeren Bruder Max in Berlin besuchte und sich eines Nachmittags allein in seinem Zimmer befand, flog ihr beim Aufräumen ein Stapel mit Zetteln entgegen. Auf jedem stand nur ein einziges Wort: Mutter. Mutter, geschrieben in allen Variationen. Mutter, Mutter, Mutter. In Antonia Ganz‘ Musikfilm „Wir waren niemals hier“ von 2005 gesteht Edith Müller, dass sie einen Schreck bekam, als ihr die Zettel entgegenflogen. „Ich dachte, das sei ein Hilferuf meines Sohnes.“ Doch es waren nur Entwürfe von Plattencovern, Konzertplakaten und Eintrittskarten für seine Band. Die heißt Mutter.