M#TTER / 2022
M#TTER
Musiktheater
Originaltext für die gleichnamige Musiktheaterproduktion von textXTND 2022
von Brezel Göring und Petra Beck
Personen:
- Die Mutter (Pascale Schiller)
- Ein Sohn (Brezel Göring)
- Ansagestimme (Petra Beck)
- Sänger (Oliver Augst)
EINS
Es gibt keine Chronologie, keinen Handlungsablauf. Nur zwei Personen, die sich aneinander abarbeiten. In getrennten Welten, aber in enger Verbindung. Mutter und Sohn. Die Themen gibt die Gesellschaft vor: Geld, Geld, Geld, Geld, Liebe, Sehnsucht, Politik, Qual, Ehrgeiz, Arbeit, Tod... Mutter! Mein Sohn!
Der "Mythos" der Künstlermutter, "Die Deutsche Mutter", „Mutterikone“, "Mitarbeiterin", "Darstellerin" "Sekretärin", "Hotel Mutter". Zwischen der Mutter und ihrem Künstlersohn besteht ein reibungsvolles Wechselverhältnis, Ausgangspunkt für eine theateralisch-musikalische Auseinandersetzung.
ZWEI
Brezel mit Brief in der Hand:
Sehr geehrter Herr Augst, betreff Ihrer Anfrage: Liederabend über # und seine Mutter! Mit den Kompositionen von ####, der die Musik für die Filme des von unserer Foundation repräsentierten Filmregisseurs komponierte! Wir müssen ihnen leider mitteilen: heutzutage will jeder seine kleine viertklassige Theaterproduktion mit großen Namen aufpolieren. Also, wir teilen leider mit: in diesem Fall beißen Sie auf Beton! Verboten! Per einstweiliger Fügung verbieten wir ihnen den Namen # zu verwenden oder biographische Details so hinzustellen, dass Rückschlüsse auf die betreffende Person möglich wären, wir sehen uns gezwungen, bei Zuwiderhandlung, Maßnahmen zur Bewahrung der Integrität unseres Nachlass- Verwaltungsauftrages zu ergreifen ecetera ecetera, mit verbindlichen Grüßen, die Anwälte scharren schon mit den Hufen,…
(Das Zeichen # wird groß projiziert, oder auf einem Schild hochgehalten.)
DREI
Mutter: Huch, wo bin ich denn hier gelandet? Ach so, verstehe, im Theater. Willkommen, hochverehrtes Publikum, liebe Zuschauerinnen und Zuschauer. Es gibt eine Bevölkerungsgruppe die ich zum heutigen Abend besonders innig begrüßt wissen möchte, und das sind die Mütter. Nicht irgendwelche Mütter - sondern diejenigen, die einen Künstler oder eine Künstlerin zur Welt gebracht haben.
Jeder Künstler hat eine Mutter, aber nicht jede Mutter hat ein künstlerisch schöpferisches Kind: Daran erkennen Sie schon: Künstler sein ist etwas sehr gewöhnliches, aber Künstlermutter: sehr selten, sehr exklusiv, sehr sublim...
Wir spielen heute Abend Musik am Rande der Verzweiflung: der Kapellmeister und der Sänger stehen gedanklich auf der Fensterbank eines hohen Hauses.
KINDHEIT ALS MATERIALAlle Kinder haben eine Mutter. Und alle Künstler haben einen Gegenstand, an dem sie sich abarbeiten. Einsamkeit, Liebe, Tod, Sehnsucht, das Scheitern von Ehen, Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft, an der Familie. Das ist das Material für unseren kleinen Autoethnographen. Die Hauptfiguren sind Frauen, die Frauenfiguren Selbstporträts.Mutter: Frau Schmitt, Frau Müller und Frau Meyer wurden bisher als eigenständige Persönlichkeiten wahrgenommen. Doch eine Künstlermutter erfährt eine tiefgreifende Veränderung: sie ist plötzlich nur noch 'die Mutter von...'
Manchmal gehen die Biographen noch weiter: dann ist plötzlich auch noch alles die Schuld der Mutter!
Auch diese Clique wollte kein gutes Haar an mir lassen. Diese Leute, die bei den Werken meines Sohnes eine Rolle gespielt haben.
Vielleicht sollte ich mich mal vorstellen? Ich bin ##, ich habe eigentlich ganz interessante Sachen gemacht in meinem Leben, und ich war alleinerziehend.
Mein Kind ist im klassischen Matriarchat aufgewachsen. Die Typen waren ja alle ein bisschen Stulle... Nach seinem Tod habe ich ein wundervolles Substitut für Mutterliebe gefunden: Ich habe die ##-Foundation gegründet.
Hören wir noch ein Lied? "Liebe ohne Wunder"! Ha ha. "Das Leben geht einfach immer nur weiter".
Angesichts von so viel hochgetürmtem Zivilisationspessimismus wundere ich mich, dass der Komponist überhaupt irgendwelche Noten gefunden hat.
Brezel:
Wir kommen nicht an der grausamen Schlussfolgerung vorbei, Mutterliebe ist nur ein anderes Wort für den Hass auf dieser Welt.
VIER
PROJEKTIONSFLÄCHE
Die Mutter in der Kunst, das ist keine leichte Aufgabe. Immer wieder taucht die Mutter auf, schon wieder die Mutter.
FÜNFMutter: Eigentlich weiß ich nicht, wie das heute ist - vermutlich immer noch genauso wie damals in den fünfziger Jahren, wenn da eine Frau ihr Kind alleine großgezogen hat. Dann tauchten immer mit schöner Regelmäßigkeit, dann tauchten also immer diese "Onkeln" auf, die die angeblich verloren gegangene Erziehung nachholen wollten. Genauso schnell verschwanden die auch wieder. Es ist einfach nicht zu begreifen, was da vor sich geht, bei den Männern, da oben, irgendeine fiese, böse, dunkle Krankheit bohrt da im Gehirn (Bläser), und wir, wir Frauen sind vielleicht nur das Symptom dieser Hirnkrankheit - die Kleinfamilie, die zerbrochene Familie, die alleinerziehende Mutter... alles Symptome des Mannes! (Bläser) "Männer lieben als hätten sie keine Zeit zum glücklich sein". Das sind bedauernswerte Inhalte, die das folgende Chanson zur Anschauung bringt. Aber es gibt auch fröhliche Aspekte in diesem Lied. Die Zeile "Das Handtuch ist so dreckig" erinnert uns daran, dass der Abfall das Wichtige ist, auch in der Kunst. (evtl Bläser)
SECHS
Brezel
„ZUR WELT KOMMEN, ZUR SPRACHE KOMMEN“: SPRECHEN HEISST KÄMPFEN.
Vor allem Dingen mit Mutter. Jaaaaaa. Ich kämpfe schon wieder. Ringen um Verständnis. Wenn der Kampf aufhört, Sprachlosigkeit. Unverständnis. Geschichte des Schweigens. Höflichkeitsfloskeln, Banales. Dann wieder kämpfen mit der Realität des Anderen. Sehnsucht. Warum bist du denn kein Beamter?
Auf labyrinthische Weise sind die Dinge miteinander verschlungen und durch schwer durchschaubare Bezugssysteme miteinander vernetzt. "In dir, du dunkler Abendstern, sehe ich mich selber wie von fern..."
SIEBEN
Mutter: Ja, ja, die Bilder meines Sohnes rufen bei gebildeten Betrachtern immer wieder Bewunderung und Empörung hervor, auch bei den Ungebildeten... ein quälendes Zeitmaß, Zerrissenheit der Gefühle, Unwissenheit zwischen Pflicht und Neigung, menschliche Affekte - auf- und anscheinend auch hinter der Leinwand.
Ich glaube, mein Sohn hat sich da sein Phantombild von einem Vater geholt.
Tja, die berühmten sieben Worte am Kreuz: (sie zählt mit den Fingern mit, obwohl jetzt natürlich mehr als sieben Worte kommen.) "Du magst es doch, wenn ich dich quäle...je mehr ich dich misshandle, um so mehr liebst du mich..." Das ist alles sehr suggestiv und beunruhigend, die Vorstellung, dass solche Gefühle und Praktiken nicht auf das Liebesspiel begrenzt bleiben. Und dennoch: Falsche aber fruchtbare Konsequenzen sind besser als richtige - solange sie steril bleiben...
ACHT
Brezel: Gott konnte nicht überall sein, darum schuf er Mütter. (Leopold Kompert)
Mutter: Mein armer Sohn, wenn ich Dir nur Trost geben könnte, dich in meine Arme schließen! Aber solche Zeiten und Schicksale muss man allein tragen und allein überwinden: Männlich, ernst und den Schmerz ganz und tief auskosten.
Lass dich behandeln und bleib bei deinem Arzt! Mit dieser Krankheit ist nicht zu spaßen. Du musst dieses Übel loswerden. Ach, wenn ich dir doch helfen könnte. Ich leide mit dir, mein Kind. Bis dahin will ich dich nicht sehen… Einer Mutter Rute ist besser als der Fremden Weißbrot, sagen die Finnen.
NEUN
Brezel: Um Gottes Willen, der Heideknabe. dieses Lied kann ich wirklich nicht leiden.
Mutter: Nein, warum denn nicht?
Brezel: Na ja, diese Art von Musik verkörpert alles, was ich eklig finde, Abschied, Alptraum, Todesangst - in einer musikalischen Sprache, die mir vollkommen verbildet bürgerlich erscheint.
Mutter: Na ja, das sind romantische Lieder, und dieser Ausdruck hat so viel später jenen aufgewühlten Geistern aus dem Herzen gesprochen, die eine katastrophale Zeit hinter sich hatten und sich daran noch sehr lebhaft erinnerten. War das ein Alptraum, oder weiß ich schon im Aufwachen, dass ich das alles wirklich erleben werde. Wahrscheinlich. Fatalismus eben.
Brezel: Möglicherweise ist es das, was mich so aus dem Konzept bringt.
Mutter: Aber hör mal. Auf das nun folgende Lied hat mich mein Sohn bereits als Kind hingewiesen, wobei er den Namen so atemberaubend falsch aussprach, dass ich lange Zeit nicht begriff, was er meinte.
ZEHN
Mutter: Das komische bei mir ist: die ##### schreibt, ich sei von meinen Feinden beeinflusst! Das gilt wahrscheinlich auch schon wieder für meinen Sohn. Und ob nun in seiner Arbeit ein traumatisches Element steckt oder nicht, Mutter/Sohn/Sohn/Mutter/Mutter/Mutter, das hat nur wenig Bedeutung. Wichtig ist allein, dass er überhaupt irgendetwas produziert hat. Und dass er dabei noch menschliche Schwächen besiegen muss, ist ein zusätzliches Problem. Menschliche Schwächen, bei sich selbst, seinen Mitarbeiterinnen, Schauspieler, Produzenten, und dann das Publikum. Von der Kritik ganz zu schweigen.
Es ist wie in seinen Bildern: die Wirklichkeit hat etwas Traumhaftes - etwas alptraumhaftes meistens. Aber wir werden uns nicht fressen lassen von den Bedingungen, und schon gar nicht, wenn es nicht die unseren sind.
ELF
Mutter: Die psychoanalytische Formel für den Fetischismus lautet:
"... ich weiss ja, aber dennoch..."
"... ich weiss ja, aber dennoch..." "...ich weiss ja, dass die Mutter keinen Penis hat, aber dennoch... glaube ich sie hat einen... und dieser Glaube ist durch ein Objekt des Fetischismus verkörpert und ich handele danach...
Sie haben sich jetzt genug Fragen über die Mutter des Künstlers gestellt, deswegen:
Wir sind jetzt am Ende: ich rufe nochmal das vom Anfang in Erinnerung: der Name des Künstlers dessen Mutter ich bin: durfte nicht genannt werden. Die Lieder, wurden komponiert von Peer Raben, xy, xy... das ganze kommentiert von mir, der Mutter, gespielt von Pascale Schiller. Die Musik wurde gespielt vom Marburg Jazz Orchester, geleitet von Christoph Klenner, der die Arrangements von Marcel Daemgen für die Bigband ausgearbeitet und realisiert hat. Letzterer war auch auf der Bühne an den Keyboards und Live-Elektronik zu hören. Der Sänger - der Sohn sozusagen - war Oliver Augst.
Habe ich jetzt alle? Nein, Setareh Alipour, Produktionsleitung, Isabella Koeters, Bühnenbild und Norbert Zacharias, Ton, sowie die beiden textautoren, Petra Beck und Brezel Göring.
Und natürlich, Reiner Krausz und Vita Spieß, die die Video-Dokumentation übernahmen, und... na, Sie haben es schon geahnt: OLAF RAHLWES! Und YVONNE! PIETZ! Die haben die Grafik gemacht, Flyer, Plakat, Programmheft. Ohne diese Dinge läuft heutzutage gar nichts mehr!
ENDE
mehr
Bühnentext (Brezel Göring)
Bühnenbild (Brezel Göring, Entwurf)
Programmhefttext (Wolfgang Müller)
Presse
Exposé
Sachbereicht
Foto
Flyer/Plakat