VOLKSLIEDMASCHINE / 2002
Text von Christoph Buggert:
DAS SINGENDE CHAOS
Thesen zur Volksliedmaschine von Augst/Korn
Eins.
Karlheinz Stockhausen sagt:"Die Entdeckung des DNS-Codes erlaubte es, sich
darauf zu konzentrieren, wie man verschiedene Arten von Lebewesen schaffen kann,
indem man von allerkleinsten Teilen und ihren Elementen ausgeht... In der Musik
machen wir genau dasselbe."
Was Augst/Korn versuchen, ist eine Art Klonverfahren. Sie atomisieren den Gegenstand
Volkslied und veranlassen eine Maschine, mit den gewonnenen Partikeln das Volkslied
unserer Zeit zu singen.
Paul Virilo sagt:"Wissenschaft und Technik erschließen das Unbekannte,
nicht das, was man weiß. Wissenschaft erschließt das, was nicht rational
ist."
Würden Augst/Korn mit ihrer Systematik nur zertrümmern und dann beliebig
zusammensetzen, wäre das Projekt Volksliedmaschine uninteressant. Decodierung
und Neucodierung müssen ein Ziel haben.
Kodwo Eshun sagt: "Alle neuen Soundwelten begannen als Unfälle, entdeckt
von Maschinen."
Eshun versteht die Maschine als den kompetenteren Komponisten unserer Zeit, weil
sie klangliche Testreihen ermöglicht, die das kreative Potential einzelner
Hirne nicht bewältigt. Maschinen liefern den Sound der Zukunft. Wenn es
zutrifft, daß das Volkslied alten Stils dem kollektiven Unbewußten
vergangener Epochen Stimme gab, dann wären Augst/Korn mit ihrer Volksliedmaschine
eventuell dem kollektiven Unbewußten unserer Zeit auf der Spur.
Zwei.
Volkslied und Maschine - zunächst einmal sind das Begriffe, die auf der
Emotions- und Gedankenskala weit auseinander liegen. Schon in der Tatsache, daß Augst/Korn
entgegengesetzte Begriffe zusammenzwingen, liegt ein intellektueller Reiz. Aber
es bleibt nicht beim Sprachspiel, sie konstruieren die Volksliedmaschine tatsächlich.
Dabei wird die Reihenfolge maschineller Herstellungsprozesse eingehalten: Rohmaterial
- serielle Fertigung - Produkt. Allerdings darf man die Frage, die gegenüber
allen übrigen Erzeugnissen des Maschinenuniversums angebracht ist, auch
an die Volksliedmaschine richten: Was soll das! Brauchen wir denn immer mehr
Kühlschränke, Volkswagen, Volkslieder?
Drei.
Irgendwo in unserem Hirn muß es eine Region geben, wo die Synapsen begeistert
zu feuern beginnen, sobald Worte wie "Heimat", "Sehsucht",
Schloß", "Abend" oder "Fluß" fallen. Das
Volkslied unterhält zu diesen Hirnregionen freundliche diplomatische Beziehungen.
Im Gegensatz dazu haben wir alle, die wir eine auf Distanz und Ironie setzende
Sozialisation hinter uns haben, besagte Hirnlandschaft mit feindlichen Truppen
umstellt. Die Kanonenkugeln, die wir über die Grenze ballern, tragen Namen
wir "Kitsch", "Sentimentalität", "Männerchor", "bürgerlicher
Konzertbetrieb". Beschränken wir uns zunächst auf eine Vermutung:
Augst/Korn sehnen sich nach den tabuisierten Landschaften im Kopf. Sie suchen
nach einer Sprache, die ihnen - an Spott und Zweifel vorbei - wieder Zugang verschafft.
Frage allerdings ist, ob ihre Maschine dabei mitspielt.
Vier.
Notizen beim Hören der Volksliedmaschine:
Absichtsvolle Entweihung
Kultursabotage, Kulturattentat
Serielles Singen
Akustischer Reißwolf
Geschichtswissenschaft, die Geschichte auffrißt
Musikalisches Sägewerk
Hyperanonymität
Elektronische Reinigung
Analogie-Scrabble
Melodie und Rhythmus die Fußsehnen durchschneiden
Molekularisierte Vergangenheit
Fünf.
Das Volkslied, sagt das Volkslexikon, hat keinen Texter und keinen Komponisten,
sein Ursprung ist anonym. Das Vorhandensein formelhafter Elemente in Text und
Melodie - Grundbausteine, die immer wieder anders zusammengesetzt werden können
- läßt auf kollektive Verwurzelung schließen: Es geht um den
handlichen und gemeinschaftlichen, nicht um den individuellen Gebrauch. Das Urheberrecht
ist also ausgeklammert, niemand kann für das Volkslied zur Verantwortung
gezogen werden. Auch die Maschine bedient sich serieller Verfahren. Selber ein
serielles Produkt, erzeugt sie serielle Produkte. Individualität und maschinelle
Fertigung sind nahezu unvereinbar, die Maschine bedient Gemeinschaftsbedürfnisse.
Sind also die allerorten tätigen Klangmaschinen vernetzt mit dem kollektiven
Unbewußten unserer Zeit? Wenn dem so wäre, ist Vorsicht angeraten.
Das kollektive Unbewußte hat genügend Unheil angerichtet. Maschinen übrigens
auch.
Sechs.
Die Volksliedmaschine wurde für das Radio entworfen. Auch das Radio ist
eine Maschine. Beim Zusammentreffen von Maschinen kann passieren, was beim Zusammentreffen
von Menschen geschieht: Beide erfahren etwas über sich. Die Volksliedmaschine,
das gehört zum Konzept von Augst/Korn, begnügt sich nicht mit dem Sendeplatz,
den das Radio für sie bereithält: Das experimentelle Hörspiel,
Mittwochabend, 2O.3O bis 22.OO Uhr. Die Volksliedmaschine produziert eine endlose
Kette von Splittern. Die sollen nach Vorstellung von Augst/Korn überall
im Programm auftauchen: überraschend, unangemeldet, verstörend. Indem
das Radio sich dagegen wehrt, bringt es sich in den Verdacht, eine domestizierte
und ängstliche Maschine zu sein. Dieser Verdacht schmerzt das Radio. Also überwindet
es sich, und duldet die Splitter - nicht so reichlich, wie die Volksliedmaschine
sie produziert, aber gelegentlich. Das Radio hat also gelernt, daß es sich ändern
kann. Die Volksliedmaschine hat gelernt, daß sie nicht das Radio ist.
Sieben.
Aus einem Briefwechsel zwischen Augst/Korn.
Lieber Oliver, blättre im Lexikon der deutschen Volksmusik. Eine lustige
Sprachwelt ist das. Titel etwa wie: Junger Mann im Frühling - Zwischen Jetzt
und Irgendwann - Kiddy-Kiddy-Kiss me - Auf dem Mond, da blühen keine Rosen...
Meilenweit sind sie voneinander entfernt: das Volkslied und die Volksmusik. Nimm
nur mal den Titel: Der Mond ist aufgegangen. Und im Vergleich den Volksmusiktitel:
Der Mond von Mykonos (Friedel Hensch).
Stop! Da passiert etwas! Eine Lücke tut sich auf, durch die man Augst/Korn
auf die Schliche kommen kann - oder sie sich selbst. "Der Mond ist aufgegangen" ist
gar kein Volkslied, sondern ein Gedicht von Matthias Claudius aus dem Jahr 1779.
Die uns vertraute Melodie wurde komponiert von Johann Abraham Peter Schulz, und
zwar im Jahr 179O. Beide Daten befinden sich außerhalb der Reichweite des
Urheberrechts, trotzdem bezeugen sie eine individuelle schöpferische Tat.
Und gleich eine weitere - zugegeben: ziemlich bösartige - Feststellung. "Der
Mond von Mykonos", das belegen die immensen Einschaltquoten der Hitparade
der Volksmusik, ist dem Volk ziemlich nahe - vielleicht sogar dem kollektiven
Unbewußten. Zumindest näher als "Der Mond ist aufgegangen".
Acht.
Wie kommt es eigentlich, daß die Volksliedmaschine - jedenfalls in denjenigen
Sequenzen, die ich bisher gehört habe - mit dem guten alten Volkslied ziemlich
ruppig umgeht! Sie zerkrümelt, verkratzt, zersägt, was wir als besonders
empfindliche und feinfühlige Ware im Kopf haben. Ist, so frage ich mich,
der Gesang der Volksliedmaschine vielleicht sogar für Augst/Korn eine Überraschung?
Entlarvt die Maschine das, was die beiden in sie reingefüttert haben, als
etwas, das es schon immer war: Eine schöngeistige Auswahl, ein bürgerliches
Kunstprodukt, das den Volksmund auf eine Weise kultivierte und stilisierte, wie
es diesem Mund gar nicht recht sein konnte? Und wurde nicht das sogenannte Volkslied
von einigen ängstlichen Volkspflegern namens Herder, Schlegel, Uhland usw.
gerade in dem historischen Moment entdeckt, gesammelt, herausgegeben, als das
Volk ganz andere Töne spuckte? Weniger leise, durchaus revolutionäre, äußerst
unbequeme?
Neun.
Die Funktionsweise der Volksliedmaschine ist ausgedehntes und verstreutes Dasein.
Sie singt Tag und Nacht. Der bürgerliche Kunstbetrieb dagegen arrangiert
gezielte Momente, genannt "das Konzert". Auch das Volkslied alten Stils
ist komprimierte Gegenwart, es beginnt - und endet schon nach wenigen Versen.
Vielleicht ist es genau diese Begrenzung, die das Volkslied-wie-wir-es-kennen
zum künstlichen Produkt macht? Es drückt das kollektive Unbewußte
nicht aus, es selektiert, isoliert, hebt hervor, macht kenntlich - es leistet
etwas. Die Volksliedmaschine dagegen könnte nie in einem Konzert auftreten.
Wer ihr begrenzt zuhört, kann Pech haben: Sie ist gerade nicht in Form,
mümmelt vor sich hin, begibt sich unter ihr Niveau. Und genau das macht
sie dem kollektiven Unbewußten verwandt. Letzteres ist fraktale Struktur,
die sich in unendlicher Ausdehnung wiederholt. Es ist chaotisch, phasenweise
stumm, dann wieder ziemlich laut und unbeherrscht. Es ist niemals zu fassen.
Zehn.
Wenn es also stimmt, daß die Volksliedmaschine sich mit dem kollektiven
Unbewußten solidarisiert - über das feinfühlige, künstlich
umhegte und eingrenzte Volkslied hinweg - dann darf man besonders gespannt sein,
wie es sich anhört, wenn Augst/Korn mit dem akustischen Material, das ihre
Maschine ausspuckt, nach künstlerischen Prinzipien umgehen. Genau dies ist
geplant, und zwar als circa fünfzigminütiges Hörspiel mit dem
Titel "Modell Volksliedmaschine". Als Vorstufe des Modells ist die
weitgehend autonom funktionierende Volksliedmaschine unentbehrlich. Sie mußte
zunächst einmal entdecken - und wir mit ihr - daß aus dem Volkslied
alten Stils eine ziemlich eindeutige Absicht spricht: Das Ungehobelte soll gebändigt
werden. Und letzteres gelang den Entdeckern - oder soll man sagen: Konstrukteuren
- des Volkslieds deswegen so ausgezeichnet, weil sie das Gebändigte als
besonders authentische Form des Ungebändigtseins verkauften. Die Volksliedmaschine
räumt damit auf. Sie mümmelt, zertrümmert und sägt. Aber
es ist gut, daß dahinter nicht eine andere Sentimentalität auftaucht:
Die Anbetung des Monds von Mykonos. Wozu eine ungeprüfte Vernetzung mit
dem kollektiven Unbewußten führt, wissen wir inzwischen. Das Volkslied
unseres Zeit ist nicht romantisch. Aber wenn es Modell sein soll, dann muß es
genauso rational und kontrolliert operieren, wie das romantische Volkslied es
tat. Allerdings ohne den wärmenden Selbstbetrug, den die Romantik sich noch
leisten konnte.
(1. März 2OO2)
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