VOLKSLIEDMASCHINE / 2002
Der Begriff des Volkslieds und seine Kanonisierung durch bürgerliche
Künstler im Sinne seiner Überarbeitung und Aufwertung zum Schönen,
Wahren, Guten, ist eine Erfindung der Romantik. Dieser Prozess der bürgerlichen
Aneignung der "Volkskultur", hatte zwei Richtungen: Patriotisch-
erzieherisch wirkte er auf das (zu bildende) Volk, sehnsüchtig-selbstreflektiv
wirkt er auf die romantischen Bürger selbst: Es berichtet den Bürgern über
einen ihnen fremden Erfahrungsbereich (Natur, Einfachheit, Solidarität
einer gleichgesinnten Gruppe, etc.).
Spätestens seit diesem Moment - seit seiner Überarbeitung, Kanonisierung
und schließlich massenhaften Verbreitung durch Flugblatt, Buch etc.-
trennen sich die Identitäten von Raum, Erfahrung, Zeit, Semantik, Bild,
die im Volkslied zuvor noch einen authentischen Ausdruck fanden. Musikalischer
und sprachlicher Ausdruck lösen sich von ihrer Anbindung an unmittelbare
Erfahrung. Das Volkslied wird zum Medium und es ist in dem Sinne medial,
als es uns von etwas berichtet......
In diesem Sinne verstehen Augst/Korn das Volkslied als Signatur eines geschichtlichen
Gedächtnisses, als Ort eines Archivs, das sie weniger lesen, als es
vielmehr einem selektiv-maschinellen Prozess von Wahrnehmung unterziehen,
einem komplexen System von Filtern, Kopplungen und Ausschlüssen maschineller
Scanningbefehle.
Hardwarebasis der Volksliedmaschine ist ein Computer/Server, der ein Audio-Archiv
speichert. Archiv meint hier nicht, wie im wissenschaftlichen Sinn, die möglichst
lückenlose Sammlung und Abbildung von Materialien zu einem Thema. Was
Augst/Korn am Archiv vielmehr interessiert, ist seine Architektur, die Möglichkeit
von Strukturen und Substrukturen, der Verweis, die Signatur, die Interaktion
der Bestandteile, das Schlagwort und der gesamte Text, die Liste. Das Archiv
bildet sich weniger in Begriffen wie Ordnung und Unordnung ab, vielmehr zeigt
es sich in Begriffsfeldern wie: das Symbolische, die Stellung, das Differentielle,
das Besondere, das Differenzierende, die Differenzierung. Das Archiv ist
ein immer komplexer werdendes System von möglichen Verbindungen und
Ausschlüssen.
Dieses Archiv enthält Ordner, die unter thematischen und materialästhetischen
Gesichtspunkten gegliedert sind. Die Basis der Ordner sind einzelne Segmente.
Diese Segmente sind im Wesentlichen Stimmbestandteile: Verse, Sätze,
Begriffe. Dieser "Stimmapparat" wird über eine programmierte
Software (MAX/MSP), die auf die einzelnen Module und Segmente des Archivs
zugreift - sie kombiniert, schichtet, klanglich bearbeitet, ausschließt
und erweitert, hörbar gemacht.
Das Ergebnis ist eine nie ganz determinierbare Stimm/Sprach-Textur, ein sich
selbst generierender "Text", dessen Panorama sich in langsamen
bis schnellen Bewegungen über die Zeit verändert, verschiebt, in
leicht differenzierenden Nuancen wiederholt.
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THESEN ZUM VOLKSLIED von Marcel Stoetzler
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Text von Christoph Buggert
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