VOLKSLIEDMASCHINE / 2002
THESEN ZUM ‘VOLKSLIED’ von Marcel Stoetzler:
1. Das Volkslied ist das Produkt seiner eigenen Aneignung durch das Buergertum.
2. Der Begriff entstammt dem Zusammenhang des Kolonialismus des spaeten 16ten
Jahrhunderts. Er reflektiert die erstaunte Beobachtung, dass es möglich
ist, Poesie zu entwickeln ohne Schrift, und Harmonie ohne ordentliches Studium
der Kirchtonarten. Die humanistische Anerkennung der Universalität (zum
Beispiel) des poetischen Empfindens verdankte sich der einsetzenden Entwicklung
einer neuen, perfideren und verfeinerten Ausbeutungsweise planetarischen
Maßstabs.
3. Im historischen Kontext der Herausbildung des Nationalstaats hatte die
Nationaldichtung die Sitten bessern und einen neuen Vaterlandsgeist erzeugen
zu helfen. Es ging zunächst lange Zeit keineswegs darum, aufzuzeichnen,
was ist, sondern darum, aus dem Vorhandenen nach einer spezifischen Vorgabe
zu filtern und durch den Verstärker des Flugblatt- und Buchdrucks das
Wertvolle und das Schöne zu fördern. Gleichzeitig suggerierte man
sich, dass die eigene (bürgerlich-patriotische) Vorstellung davon, was
dieses Wertvolle und Schöne denn eigentlich sein solle, identisch sei
mit dem authentischen Kern des Volkslieds wie es wirklich (empirisch vorfindbarerweise)
ist: Um aber das ‘Volkslied wie es wirklich (im Sinne von eigentlich)
ist’ zu finden, muss erst der die völkische Essenz entstellende
Schund (das Französische, Englische, Jüdische, Konventionelle,
Kommerzielle etc.) abgetragen werden. Daher werden das Schmutzige und Schrille
(zunaechst) nicht kanonisiert. Was tatsaechlich ein (normativer) Setzungsprozess
war, wurde als ein hermeneutisches Verfahren zur Bestimmung des Wahren und
Eigentlichen (des Wirklichen) getarnt. Das Volkslied wurde im Verlauf dieses
Vorgangs ebenso rhythmisch und harmonisch glatt wie seine ‘Entdecker’ sich
dabei politisch und sittlich korrekt fühlten.
4. Es gibt kein ‘Gesellenlied’ mehr weil ‘Geselle’ keine
der die Gesellschaft organisierenden und strukturierenden Kategorien (mehr)
ist. Dafür gibt es ein ‘Volkslied’, weil der Krieg aller
gegen alle, der aus der Auflösung der mittelalterlichen Ordnung und
ihrer Differenzierung in ‘Personenrubriken’ resultiert, eine
Ersatz-Ordnung imaginieren muss. Die Gesellen-, Bauern-, Ritter- etc. -lieder
fallen jetzt alle zusammen in die schwammige Kategorie ´Volkslied´.
5. Der Prozess der bürgerlichen Aneignung der ‘Volkskultur’,
in deren Prozess der demos als ethnos re-interpretiert wird, hat zwei Richtungen:
Patriotisch- erzieherisch wirkt er auf das (zu bildende) Volk, sehnsüchtig-selbstreflektiv
wirkt er auf die romantischen Bürger selbst: Es berichtet den Bürgern über
einen ihnen fremden Erfahrungsbereich und gibt ihnen Gelegenheit, ihr Unbehagen
an ihrer eigenen Subjektivitaet zu artikulieren. Hierin duerfte der Hauptgrund
dafuer liegen, dass das Volkslied selbst heute noch immer wieder neu angeeignet
wird.
6. Auch der Maennergesangsverein war nicht das Volk.
7. Die kapitalistische Produktionsweise loest die Voelkerschaften auf, schafft
aber zugleich Nationalstaaten, die das ‘Ethnische’ im Zustand
des Untoten erhalten. MTV ist Gott (muss als solcher sterben), Viva ist Luther
(ueberlebt).
8. Es gibt überhaupt keinen Grund anzunehmen, die affirmative Anknüpfung
an irgendwelche Formen von (bürgerlicher, nationaler) Vergemeinschaftung
würde belohnt durch die weitergehende Erfüllung der Emanzipationsversprechungen
der bürgerlichen Gesellschaft (auch: ‘Zivilgesellschaft’;
welche sind ‘Freiheit, Gleichheit, Eigentum und Bentham’ [MEW
23:189]), und schon gar nicht durch irgendetwas besseres.
9. Das Volkslied ist ein standardisierter Platzhalter fuer etwas, von dem
behauptet werden soll, dass es etwas Besonderes ist (und zwar ueber das Mass
hinaus, in dem sowieso alles irgendwie besonders ist). Volkslied verhaelt
sich zu Lied wie Trikolore zu Fahne. Volkslied wie Nationalflagge sind Phaenomene
und Produkte eines Zeitalters universeller Vereinheitlichung.
1O. Die innere, sozusagen die materiale Einheit des Volkslieds ist ebensowenig
organisch wie die Einheit des Lieds mit dem ‘Volk’, von dem es
angeblich ausgeht, dies ist.
11. Singen senkt die Schamschwelle und erhöht die Pathosbereitschaft.
12. Die (jetzt nur noch klein-) buergerliche Aneignung der ‘Volksmusik’ nimmt
sich immer wieder gerne vor, die bösen Geister Kunst, Kitsch und Kommerz
(alias franzoesische, juedische, angelsaechsische ‘Einfluesse’)
auszutreiben und der Volksmusik ihre Seele zurückzugeben. Was der genaue
Inhalt der ‘Seele’ denn sei, ist freilich historisch und gesellschaftlich
jeweils verschieden bestimmt durch die unterschiedlichen Absichten und gesellschaftlichen
Positionierungen der Interpreten bzw. der Interpreten der Interpreten. Wie
schon in der Frühromantik, kann auch heute die zu restaurierende Seele
der Volksmusik bürgerlich-rechts ebensogut wie plebejisch-links gesucht
und gefunden werden.
13. Das Unheil, das die Kulturindustrie anrichtet, ist ein Segen.
Kommerzialisierung und Warenfoermigkeit bergen in sich Emanzipation, in grotesker
(um auch Philosophen verstaendlich zu bleiben: ‘entfremdeter’)
Form wie auch als Potential - in genau demselben Sinne in dem die kapitalistische
Produktionsweise die Moeglichkeit kommunistischer Menschenverhaeltnisse in
sich birgt. Auf dem Weg dahin muss daher nicht etwa die Seele der Musik restauriert
werden, sondern die Spuren ihrer Produktion, ihr Produkt- und Warencharakter
sind in ihrer Ambivalenz zu wuerdigen.
Mit seinem Vortrag und Diskussionsbeitrag THESEN ZUM ‘VOLKSLIED’ ist
Marcel Stoetzler Gast bei "intermedium 2", Forum zur Volksliedmaschine
am 23.3.O2 um 18:OO Uhr im "kleinen Studio", ZKM Karlsruhe.
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THESEN ZUM VOLKSLIED von Marcel Stoetzler
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Text von Christoph Buggert
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