AN DEN DEUTSCHEN
MOND / ARBEIT / CD / 2001
Notizen zum "Volkslied":
Eine Kritik des Begriffs wie der Versuch einer Wertschätzung des Gegenstands
von Marcel Stötzler
1.
"Kommerzielle", auf gut deutsch: warenförmige, Volksmusik
steht allgemein in schlechtem Ruf. Auf einer Podiumsdiskussion über
Volksmusik (im Herbst 1992 in Salzburg) hat der Autor und Journalist Michael
Scharang
eine kluge Bemerkung zur deren vorsichtiger Rettung gemacht: Er stellt fest, "daß es
noch Schlimmeres gibt als die kommerzialisierte Volksmusik: die echte".
Da die vorliegende CD nicht nur eindeutig als Ware produziert wurde und in
der Absicht, verkauft zu werden, sondern auch die eingespielte Musik keineswegs "echt",
sondern entschieden künstlich ist, befinden wir uns in dieser Angelegenheit
auf der sicheren Seite.
Die Aufnahme von und Bezugnahme auf "Volksmusik" hat eine lange
und anerkannte Tradition in der "ernsten" Musik, und dasselbe gilt
vom "Sammeln", also Auslesen, Produzieren und Bearbeiten von Volksmusik
im Rahmen aller anderen Arten von Musik ("Popularmusik"). Einen
Höhepunkt der Begeisterung für dieses Auslesen und Reproduzieren
von "Volksmusik" gab es in der BRD der 1970er Jahre. Dieser scheint
durch die Idee, die "folk song-Bewegung" in den USA zu imitieren,
inspiriert gewesen zu sein, welche dort einen Platz im Rahmen von politischen
Emanzipationsbewegungen wie der Bürgerrechtsbewegung oder der Arbeiterbewegung
hatte.
Eine Möglichkeit, sich der Musik der vorliegenden CD anzunähern,
dürfte der Vergleich mit dieser und anderen Volksmusiktransformationen
sein, die die Hörenden sicherlich aus dem schwarzen Schacht musikalischer
Traumata abrufen können.
2.
Die Frage der Urheberschaft der Volkslieder ist für Nationalisten eine
ambivalente. Das kuriose Buch "Wer schuf unsere Volkslieder? Aus dem
Leben ihrer Komponisten und Dichter" von einem Max Benndorf (ohne Datum,
Leipzig, vermutlich 1935 oder wenig früher erschienen), das schon auf
der ersten Seite behauptet, "des deutschen Volkes höchstes Gut
auf dem Gebiete der Musik ist das Volkslied", ist unentschlossen darin,
ob es besser ist, zu behaupten, dass das Volkslied sich direkt der Seele
des Volkes entseufzt, oder aber, dass es von den besten und bekanntesten
Experten der kulturellen Elite fabriziert wird. Die Frage "Wer schuf
unsere Volkslieder?" wird in dieser politisch expliziten Publikation
mit sowohl - als auch beantwortet: "Eine bunte Reihe: die besten Namen
aus der Musik- und Literaturgeschichte sind vertreten, große Dichter
und Komponisten stehen neben einfachen Leuten aus dem Volke, Staatsmänner
und Handwerksmeister, Gelehrte und fröhliche Sänger reihen sich
an" (ibid., S. 8). Es wird nicht unerwähnt gelassen, dass oft die "Schöpfer" der
Lieder "keinen Wert darauf legten, bekannt zu werden", sie "traten
bescheiden in den Hintergrund".
Zum Begriff des "Volkslieds" kam es, nachdem gebildete Europäer
im letzten Drittel des 16. Jahrhunderts voller Erstaunen entdeckten, dass
es möglich ist, Poesie zu entwickeln ohne Schrift, und Harmonie ohne
ein ordentliches Studium der Kirchtonarten absolviert zu haben. Diese bemerkenswerte
Entdeckung wird zum Beispiel in Brasilien, Irland und Wales gemacht, das
heißt sowohl in den äußeren als auch in den inneren Kolonien
(oder vielmehr den Gegenden, die dazu zu werden im Begriff waren). Eine seltsame
Dialektik bindet die humanistische Anerkennung der Universalität (zum
Beispiel) des poetischen Empfindens historisch an die Entwicklung einer neuen,
perfideren und verfeinerten Ausbeutungsweise im planetarischen Maßstab.
Für Herder, dem die Einführung des neuen Begriffs gewöhnlich
zur Last gelegt wird, ist die Bedeutung des Volkslieds nicht in erster Linie
eine museale. Herder geht es nicht so sehr darum, dass da etwas aufbewahrt
werden solle in dem Zustand, in dem es vorgefunden wird, vielmehr sieht er
einen ersten Gegenstand, den er "Volkskultur" nennt, als Basis
und Inspiration für einen zweiten, den er als "Hochkultur" bezeichnet.
Dieser Gedankengang ähnelt dem seiner Sprachentstehungstheorie, die
auch nicht vorrangig ein Entstehungsmythos ist, sondern eine Theorie des
alltäglichen immer wieder Neuentstehens der Sprache in ihrem Gebrauch
in der Gegenwart. Was für die Sprache gilt, gilt für Herder ebenso
auch für Musik und Dichtung.
Im historischen Kontext der Herausbildung des deutschen Nationalstaats hieß dies
freilich, dass eine Nationaldichtung die Sitten bessern und einen neuen Vaterlandsgeist
erzeugen sollte und daher die Volkskultur weniger wissenschaftlich-positivistisch,
sondern strikt selektiv-evaluierend aufgezeichnet wurde: Es ging zunächst
lange Zeit keineswegs darum, zu dokumentieren, was ist, sondern darum, aus
dem Vorhandenen nach einer spezifischen Vorgabe zu filtern und durch den
Verstärker des Flugblatt- und Buchdrucks das Wertvolle und das Schöne
zu fördern. Gleichzeitig suggerierte man sich, dass die eigene (bürgerlich-patriotische)
Vorstellung davon, was dieses Wertvolle und Schöne denn eigentlich sein
solle, in Wahrheit identisch sei mit dem authentischen Kern des Volkslieds,
wie es wirklich ist: Um aber das "Volkslied, wie es wirklich ist" zu
finden, muss erst der die völkische Essenz entstellende Schund (das
Französische, Englische, Jüdische, Konventionelle, Kommerzielle
etc.) abgetragen werden. Daher wurde das Schmutzige und Schrille nicht kanonisiert.
Ein Formierungsprozess wurde also als ein hermeneutisches Verfahren zur Enttarnung
des Wahren und Eigentlichen, eines angeblich Vorgängigen, getarnt. Das
Volkslied wurde im Verlauf dieses Vorgangs ebenso rhythmisch und harmonisch
glatt, wie seine "Entdecker" sich politisch und sittlich korrekt
fühlten.
Ironischerweise trug diese Verschulliedung des Volkslieds zu einer Standardisierung
bei, die gleichzeitig von ihren Produkten behauptete, sie symbolisierten
spezifische "Heimat". Auch dies ist ein immer wiederkehrender Widerspruch,
der sich bei den verschiedenen Vorgängen findet, aus denen das mühselige
Zurechtkonstruieren ("Erfinden") von Nationen besteht: Nationenbildner
meinen die Einzigartigkeit und Besonderheit ihrer Schöpfung am besten
durch Flaggen und Bildchen gewisser Raubvogelarten symbolisieren zu können,
die weltweit alle kaum voneinander unterscheidbar sind (Ausnahmen bestätigen
die Regel). Das Nation-Werden irgendeines Völkchens bedeutete immer
in erster Linie, eine kapitalistische Gesellschaft und ein bürgerlicher
Staat zu werden, in anderen Worten: weitestgehend so zu werden, wie alle
anderen (zunächst die big players) schon sind. In diesem Sinne ist auch
jeder Landstrich bestrebt, seine Exklusivität durch Liedchen zu unterstreichen,
die wie Trikoloren nach universell so gut wie gleichen Strickmustern hergestellt
werden. Je marktschreierischer "das Besondere" (um auch den Philosophen
verständlich zu bleiben: die Differenz) ins politisch-erzieherische
Schaufenster gelegt wird, desto weniger dürfte von dieser begehrten
Ware tatsächlich noch vorhanden sein. Die Differenz stimmt ihr dürres
Liedchen erst in der Abenddämmerung der Eigensinnlichkeit an.
Wenn im 19. Jahrhundert der Männergesangsverein die "Pflege" des
Volkslieds auf sich nimmt, nimmt die Gesellschaft damit gleichsam die Institutionalisierung
und Ent-Volklichung dieser kulturellen Praxis vor: So wie ganz offensichtlich
die Volkspartei zwar vielleicht behaupten mag, das Volk zu sein (zumindest
metonymisch als pars pro toto), aber offensichtlich Partei, also Teil (pars),
und nicht das Ganze ist (Adorno weist hierauf in der "Negativen Dialektik" hin),
genauso ist der volksliedsingende Männergesangsverein offensichtlich
nicht das Volk. Wäre das Volk tatsächlich am Volksliedsingen, gäbe
es keinen Bedarf für einen Männergesangsverein, der das stellvertretend
für das Volk zu erledigen hat. Das Volkslied, das in einer ständischen
Gesellschaft seine Funktion hatte, wo es - und weil es - nämlich nicht
Volkslied war, sondern Partikular-Lied: Bauernlied, Gesellenlied, Ritterlied
etc., kann ebensowenig in der Klassengesellschaft existieren, wie es dort
eine Entität "das Volk" gibt; genauso aber wie wechselnd große
Teile der Bevölkerung sich aus verschiedenen Gründen gerne als "das
Volk" imaginieren, schafft diese spezifische Form von Gesellschaft den
Bedarf für die Illusion und den Begriff des Volkslieds. Bei fortschreitender
Subsumierung der Gesellschaft unter die Kapitalform, also den Prozess, in
dem die Warenform allmählich tatsächlich zur gesellschaftlichen
Totalität wird, hat auch der Männergesangsverein keinen vernünftigen
Zweck mehr: das Volk steht jetzt nicht mehr (metonymisch als pars pro toto)
auf der Bühne, sondern betrachtet sie lediglich, ein anorganischer Haufen
bürgerlicher Atome, die Augen auf das Spektakel gerichtet.
Als der Begriff um 1800 als Übersetzung des englischen "popular
song" aufkam, synthetisierte er eine Reihe spezifischer Begriffe, die
sich in der Regel klarer und nüchterner auf bestimmte soziale Gruppen
bezogen: Bauernlieder, Gesellenlieder, Straßenlieder etc. Die zig,
durchaus heterogenen Liedformen mit ihren völlig verschiedenen Anlässen,
Trägern und Funktionen konnten überhaupt nur unter dem Sammelbegriff "Volkslied" zusammengefasst
werden, weil all diese Funktionen und Differenzierungen keine mehr waren.
Die bereits erwähnte Eule, die beginnt, Volkslieder zu singen, begrüßt
damit das Morgengrauen der reellen Subsumtion. Das subtile und hochkomplexe
Etikettierungssystem der vorbürgerlichen Gesellschaft (Marx benutzt
einmal den sehr schönen Begriff "Personenrubriken") fällt
in sich zusammen und feiert Auferstehung in der handlichen und dynamischen
Form der Klassengesellschaft, in der nur zwei Klassen tatsächlich zählen
(obwohl diverse Personenrubriken weiterexistieren). Es gibt kein "Gesellenlied" mehr,
weil "Geselle" keine die Gesellschaft organisierende und strukturierende
Kategorie (mehr) ist. Dafür gibt es ein "Volkslied", weil
der Krieg aller gegen alle, der aus der Auflösung der mittelalterlichen
Ordnung resultiert, einen Ersatz-Ordo imaginieren muss. Die Gesellen-, Bauern-,
Ritter- etc. -lieder fallen jetzt alle zusammen in die schwammige Kategorie "Volkslied".
Die Volksliedforschung" macht sich im 20. Jahrhundert, nachdem sich
die Aufregung etwas gelegt hat und das neue Regime fest im Sattel sitzt,
mit allem positivistischen Fleiß der bürgerlichen Wissenschaft
daran, die Kategorie "Volkslied" begrifflich in über hundert
Untergattungen wieder aufzudröseln, die den Funktionen, Anlässen
und Trägern entsprechen, die diese Lieder einmal gehabt hatten - früher.
Eine weitere Dimension der seltsamen Dialektik, die diesen Vorgang antreibt:
In demselben Zeitraum, in dem die jetzt bürgerliche Gesellschaft den
Dichter, den Sänger etc. schafft, also gesellschaftliche Kapazitäten
zusammenrafft, konzentriert, zentralisiert, inkorporiert, institutionalisiert,
akademisiert, kommerzialisiert etc., versucht sie der ausgequetschten Zitrone
Gesellschaft, der de-qualifizierten Bevölkerung weiszumachen, dass sie,
und nicht die Experten des Kulturbetriebs, der eigentliche Träger des
gesellschaftlichen Genius sei: Wer den Schaden hat, braucht für den
Spott nicht zu sorgen. Je systematischer die Bildungsinstitutionen gesellschaftliche
Kreativität orten, identifizieren und absahnen, desto weniger wird davon
beim "Volk" hängen bleiben; nicht umsonst sind Arbeitsteilung
und Steigerung der Produktivität zentral für die Übung "bürgerliche
Gesellschaft" - die Allokation des Rohmaterials wird so eingerichtet,
dass es möglichst effektiv in den Produktionsprozess (auch den kulturellen)
eingeht. Nur wo die bürgerliche Gesellschaft noch von altmodischem Standesdünkel
von ihrer Entfaltung abgehalten wird - oder von ihrer eigenen modernisierten
Version desselben, dem Rassismus - gibt es noch Poesie im Volke (daher hausen
die Gemütlichkeit und das Malerische ausschließlich in den ständischen
und ethnischen Poren und Nischen der ansonsten hiervon gesäuberten bürgerlichen
Gesellschaft). Obwohl sich die Romantiker, die das Volkslied erfanden, statt
ihrer eigenen Klasse lieber dem einfachen Volk zuwandten (anders als die "Klassiker",
die noch mehr in der kosmopolitischen Welt des aufgeklärten Adels lebten
oder zumindest dachten), "vollstreckten sie am einfachen Volk und dessen
Traditionen bürgerliches Denken. Die Art und Weise, wie sich bürgerliche
Künstler Volkspoesie und Volksmusik aneignen und diese der bürgerlichen
Tradition einverleiben, kann als Musterbeispiel dafür gelten".
Dieser Prozess der bürgerlichen Aneignung der "Volkskultur",
in dem der "demos" als "ethnos" re-interpretiert wird,
hat zwei Richtungen: Patriotisch-erzieherisch wirkt er auf das (zu bildende)
Volk, sehnsüchtig-selbstreflektiv wirkt er auf die romantischen Bürger
selbst: Er berichtet den Bürgern "über einen ihnen fremden
Erfahrungsbereich". Goethe formulierte 1806 anlässlich der Rezension
von "Des Knaben Wunderhorn" eine Begriffskritik: Er bezog sich
auf den Gegenstand als "diese Art Gedichte, die wir seit Jahren Volkslieder
zu nennen pflegen, obwohl sie gleich eigentlich weder vom Volk noch fürs
Volk gedichtet sind". Man konnte von Goethe auch erwarten, kritisch
zu sein, weil der (bürgerliche) Begriff noch neu und seltsam, noch nicht
naturalisiert war.
Die Volkslieder "dienen dazu, gegen den eigenen Alltag in den Kanzleistuben
an Vorstellungen eines natürlichen Lebens festzuhalten" (Wawrzyn): "In
dem Maße, in dem die Bürger zunehmend isoliert in Kleinfamilien
lebten und Wohnen und Arbeiten räumlich getrennt wurden, gewann das
'Volkslied' als Synthese von modernem subjektivem Lebensgefühl und den
Gelüsten nach einem einfachen Leben und der Solidarität einer gleichgesinnten
Gruppe seine neue Anziehungskraft. ... Was die Bürger interessierte,
war nicht so sehr das Volk, sondern die Möglichkeit, über das Thema
'Volk' die Gefährdung der eigenen Subjektivität zu diskutieren.
Auch diese Brechung ist ein Kennzeichen romantischer Kunst. Es macht allerdings
gerade die Stärke der Romantik aus, dass die Bürger hier sich mit
ihren eigenen Problemen auseinandersetzen" (ibid., S. 60). Diese Bemerkung
von Wawrzyn ist vielleicht die wichtigste in diesem ganzen Zusammenhang:
Sie vermag zu erklären, warum Musiker wie Oliver Augst, Marcel Daemgen
und Christoph Korn, die wie die meisten Künstler dem bildungsbürgerlichen
Kontext entstammen, auf das Volkslied" zurückgreifen, und warum
hier immer wieder irgendetwas zu holen ist, trotz und vielleicht auch gegen
den nationalistischen Rahmen seiner Entstehung.
3.
Entgegen einer weit verbreiteten Falschinformation ist die "ethnische
Auffassung" des Begriffs der Nation keine deutsche Erfindung oder Vorliebe.
Diese einseitige Verortung geht zumindest bis auf Karl W. Deutsch zurück,
also auf die 30er/40er Jahre des 20. Jahrhunderts - dieser historische Hintergrund
macht die Kanonisierung dieser eher fragwürdigen Begriffsbildung immerhin
verständlich, nämlich im Rahmen des bürgerlichen Antifaschismus.
Die tendenzielle Gleichsetzung von "demos" und "ethnos" gehört
zum zentralen Rüstzeug der bürgerlichen Revolution (ob diese gewalttätig-revolutionär
abläuft oder nicht, ist hierbei nur wenig relevant), wurde spätestens
von Rousseau erdacht und vom Abbé Sieyès gefechtsklar gemacht.
Obgleich das Bürgertum sich in der Hitze der Macht durchaus eine Zeitlang
etwas Ambivalenz erlaubte, war "la patrie" immer schon auch national
in einem ethnischen Sinn. Es mag allerdings sein, dass die sogenannte deutsch-romantische
Auffassung der Nation die beim verhassten Franzos" aufgeschnappte Formel
(die besagt, dass das Volk, um tatsächlich "demos" zu sein,
also selbstregiert, republikanisch, frei, zugleich auch "ethnos" sein
muss, also frei von eingewanderten, nur herrschenden, dabei unproduktiven,
ausbeuterischen, das Mehrprodukt verprassenden Klassen) tiefer, gründlicher
und ernster genommen hat, als sie gemeint war - so wie ein Kind vielleicht
ein Leben lang unter der überinterpretierten launischen Bemerkung eines
Erwachsenen leiden kann. Wenn man aber vom Standpunkt des 21. Jahrhunderts
aus schaut, dann sieht es eher so aus, dass die eindeutig ethnische Formulierung
der Nation (die "deutsche") die voll entfaltete Wahrheit der verschämt
und nicht-so-eindeutig ethnisch formulierten Version (der "westlichen")
ist: Die - angeblich unzeitgemäße durch Blutsbande definierte
Vorstellung von der Nation, wie sie sich im deutschen Grundgesetz findet,
hat da ja nicht ein letztes Reservat gefunden, sondern sie wird gerade in
höflicherer Formulierung flächendeckend exportiert und scheint
ihre besten Tage noch vor sich zu haben. Um in der Metapher zu bleiben: Das
deutsche Kind plauderte, naiv-treuherzig, die Wahrheit der Erwachsenen (d.h.
der westlichen Republiken) aus, die denen damals noch nicht so klar (oder
angenehm) war.
Obwohl die Wirklichkeit einer Weltordnung von Nationalstaaten, die allesamt
auf Gesellschaften beruhen, die in kapitalistischer Weise produzieren, den
Spielraum für Unterschiede in deren politischer Form minimalisiert,
entwickeln verschiedene Gesellschaften verschiedene Vorstellungen und Begriffe
davon, was denn unter dem "Volk" oder der "Nation" zu
verstehen sei. Es ist sinnvollerweise davon auszugehen, dass solchen Unterschieden
meistens auch Unterschiede in der gesellschaftlichen Realität entsprechen.
Wie ideelle Gegenstände im Allgemeinen können sich aber Musik und
ihre Lyrik streckenweise durchaus ohne Ansehen der Realität durch das
Fortstricken ausgewählter Vorstellungen von der Realität reproduzieren,
weshalb es vorkommen kann, dass die "Volksmusik" eines "Volkes" demokratischer,
schöner und interessanter ist als dieses "Volk" selbst. Dies
ist zweifellos der Fall im Beispiel der USA und vielleicht sogar im Falle
Deutschlands (jedenfalls was das 19. Jahrhundert angeht). Auch die auf dieser
CD enthaltenen Materialien mögen das belegen.
Der zivilisatorische, die Völkerschaften auflösende Auftrag des
Kapitals hatte eine Zeit lang den Namen MTV. Es handelte auf eigene Rechnung,
aber im Auftrag der Vernunft der Epoche, im Versuch, weltweit "die Jugendlichen" als
eine universelle Klasse von wurzellosen Konsumenten zu imaginieren und zu
schaffen. Dass die Erfüllbarkeit dieses Auftrags auf immanente Grenzen
stößt, wurde Mitte der 1980er Jahre fühlbar, als MTV beschloss,
sich selbst zu zerschlagen und in an Nationalsprachen und -kulturen orientierte
Diadochensendereiche aufzuteilen und Jugendlichen in Prag fürderhin
in einer anderen Sprache und mit anders gestalteten Werbespots zu predigen
als solchen in London oder Tokio. Sicher ist, dass die hierfür Verantwortlichen
eine solche kostspielige Entscheidung nur nach vorangegangener solider empirischer
Datenerhebung treffen konnten: Anders als Sozialwissenschaftler, Philosophen,
Demagogen, Künstler und Kleinbürger im Allgemeinen haben anständige
Kapitalisten keine Zeit für schmierige erdverhaftete Ideologie, wenn
sie nicht wirklich unbedingt sein muss. Um das zu beurteilen, müssen
zum Beispiel die Bewegungen der Kaufkraft unter strengster und vorurteilsfreier
Beobachtung gehalten werden. Wenn das Kapital seinen zivilisatorischen, anti-ethnischen
Auftrag nicht erfüllt, ist das nicht böser Wille oder schlechter
Geschmack, sondern eine Unfähigkeit grundsätzlichen Charakters,
nichts weniger als die Tragik der Epoche.
Ein Ausdruck dieser Tendenz war in Deutschland die teilweise Ersetzung des
originalen, amerikanischen MTV durch deutschsprachige Videoclipkanäle
und damit zusammenhängend die umfassende Aufwertung "deutschsprachiger
Popmusik". Luther, der die Volkssprache "Teutsch" an die Stelle
von Latein gesetzt hatte (eine der Bedingungen der Entstehung einer deutschen
Kulturnation), fand in VIVA einen Wiedergänger. Jakobinische Terrorsprachherrschaft
in der Form von Quotierung nationaler und nicht-nationaler Musikwaren auszuüben,
mit denen in Frankreich der angelsächsische Imperialismus bekämpft
wird, hat man sich - auch hierin der Tradition treu - in Deutschland jedoch
wieder nicht getraut.
Ironischerweise waren es sehr oft die Zerfallsprodukte des Punk, die das
(in Westdeutschland zumindest) desavouierte Volkstümliche in der Popmusik
rehabilitieren halfen. Während Musik vorwiegend darin gesellschaftlich
radikal sein kann, dass sie sich gesellschaftlicher Konformität (und
damit auch leichter Verstehbarkeit) verweigert (und nur dann), erwiesen sich
die Epigonen des Punk (der genau das für einen kurzen Moment getan hatte)
als quasi sozialdemokratische Demagogen, treuherzig versichernd, dass ihre
musikalische Sprache (und ihre linguistische als Teil derselben) nicht etwa
daran orientiert sei, dass der Ausdruck das Auszudrückende trägt
(und tendenziell das eine im anderen aufgeht), sondern dass "auch meine
Nachbarn mich verstehen können". Allein die Periode der Entstehung
und Durchsetzung der modernen bürgerlichen Gesellschaft gab Musik, die
in diesem Sinne volkstümlich ist, Sinn und Funktion. Diese Periode ist,
zumindest in Europa, mehr als offensichtlich abgeschlossen. Obwohl es in
anderen Teilen der Welt vorübergehend anders aussehen mag, gibt es überhaupt
keinen Grund, anzunehmen, die Anknüpfung an irgendwelche Formen von
(bürgerlicher, nationaler) Vergemeinschaftung würde belohnt durch
die weitergehende Erfüllung der Emanzipationsversprechungen der bürgerlichen
Gesellschaft (auch: "Zivilgesellschaft"; diese Versprechungen sind,
in Marx' Worten: "Freiheit, Gleichheit, Eigentum und Bentham").
Unter der brennenden Sonne kapitalistischer Totalisierung kann gesellschaftlich
radikale Kunst nur im Schatten radikaler Individualität überleben.
Wo Opportunismus und Marktbeobachtung subjektiv nicht ausreichen, volkstümelnden
Unsinn nicht nur zu reden, sondern auch zu realisieren, hilft eine ausgewachsene
Ideologie, zum Beispiel die Rückblende auf die Wertschätzung der "Musik
der Völker", die bei der Mobilisierung zur (unterdessen aus der
Mode gekommenen) Unterstützung "nationaler Befreiungsbewegungen" eine
Rolle gespielt hatte.
Wo gegen "Fremdherrschaft" gekämpft wird, nicht hauptsächlich,
weil sie "Herrschaft", sondern mehr, weil sie "fremd" ist,
da singt man gerne Volkslieder. Die Verschränkung von Aufklärung
und Reaktion (der Verrat an der Idee der Aufklärung, der sich zum Beispiel
in allem manifestiert, was mit dem modernen Staat, der in der Regel eben
Nationalstaat ist, zu tun hat, ist fester Bestandteil der Realität derselben),
die "nationaler Befreiung" zugrunde liegt, spiegelt sich in der
etwas seltsamen Tatsache, dass es quasi internationale Volkslieder gibt,
die explizit anerkennen, dass das Spezifikum ("Volk zu sein") tatsächlich
eine Universalie ist: Alle Bevölkerungen haben in der modernen Welt
amtliche Völker zu werden (besiegelt durch Einnahme eines Sitzes in
der "Organisation der Vereinten Nationen"), um als existent und
ausbeutungswürdig anerkannt zu werden (da Vorsorge getroffen wurde,
dass, wer nicht ausgebeutet wird, verhungert, kann die Aufnahme in den Kreis
der Ausgebeuteten gegenüber dem Zustand des hiervon Ausgeschlossenseins
als [nationale] Befreiung erscheinen). Selbst die "Internationale",
das internationale Volkslied schlechthin, setzt begrifflich die Existenz
voneinander unterscheidbarer Völker voraus. Sie scheint dabei offen
zu lassen, ob sie Marx' Vorstellung teilt, dass diese sich im Verlauf der
Revolution auflösen.
4.
"Ein Lied, das die Menschen auf der Straße singen, ist ein Volkslied",
lautet die Definition von Dieter Thomas Heck, die auch kaum schlechter ist
als irgendeine andere. Wie die Lieder einiger anderer durchaus offizieller
Dichter hätten auch die Lieder von Bertolt Brecht zu Volksliedern werden
können, und genau so war das auch geplant gewesen; nur die Verhältnisse,
die war'n nicht so, speziell das Volk passte nicht zu den Liedern. In anderen
Fällen waren die Diskrepanzen, die dem Zusammengehen von Volk und Lied
zum Volkslied im Weg standen, zwar auch erheblich, aber doch überwindbar.
Der Musikethnologe Ernst Klusen beschreibt die Vervolksliedung des Texts "Üb
immer Treu und Redlichkeit" als ein Beispiel des "volkstümlich
gemeinten, aufklärerischen Liedes" oder, in anderen Worten, des "moralisierende(n)
Gedicht(s) als Mittel der Volkserziehung". Der Text des Autors Hölty
(der ursprünglich nicht unbedingt als Lied gedacht gewesen sein muss)
wurde zwischen 1781 und 1819 achtmal vertont. Die Version, die sich schliesslich
durchsetzte, basierte auf dem leicht veränderten Beginn der Papageno-Arie
aus der "Zauberflöte" von Mozart. Die auf Mozart zurückgehende
Version des Liedes erschien zuerst in einem Freimaurerliederbuch von 1793
- was sich vielleicht dadurch erklären lässt, dass die Oper selbst
Bezüge zu freimaurerischen Themen aufweist. Wie Klusen unterstreicht,
hat zur Popularisierung der Melodie jedoch "nicht zuletzt ihre Verwendung
im Glockenspiel der Potsdamer Garnison-Kirche" beigetragen. Klusen betont,
dass zum Originaltext von Hölty drei Mittelstrophen sozialkritischen
Inhalts gehört hatten, die sich in keiner der vielen Fassungen des 19.
Jahrhunderts wiederfinden: das sozialkritische Lied war zum Volkslied mutiert,
das nicht mehr (negativ) aristokratische Anmaßung angriff, sondern
(positiv) bürgerliches Wohlverhalten und Bescheidenheit propagierte.
Es kann angenommen werden, dass diese Transformation, die den Wandel von "Bürgerlichkeit" von
einer kritischen zu einer staatstragenden Ideologie reflektiert, nicht durch
direkten staatlichen Zwang, sondern als ein Akt freimaurerischer Selbstzensur
geschah.
Während Liederbücher als Medium eher eine "gelenkte, absichtsvolle Überlieferung" gestatten,
gibt es auch eine "ungelenkte Tradition", die sich eher in Flugblättern
und vor allem mündlich fortsetzt und die dementsprechend schwerer fassbar
ist. Klusen verweist auf ein Dokument, das von "Üb immer …" nicht
nur den vollständigen Text, sondern sogar noch eine zusätzliche
Anti-Junker-Strophe enthält.
Das Lied "Morgen kommt der Weihnachtsmann" des erfolgreichen Liederautors
August Heinrich Hoffmann von Fallersleben (zu seinen bekannteren Werken zählen "Summ
summ summ, Bienchen flieg herum", "Ein Männlein steht im Walde", "Deutschland
Deutschland über alles" und "Alle Vögel sind schon da")
ist ein weiteres Beispiel für eine Art Mozart-Song (wofür der ebenfalls
nichts kann) und ferner für eine Übertragung eines Volksliedes
aus einem nationalen Kontext in einen anderen. Es handelt sich beim "Weihnachtsmann" um
die freie Eindeutschung eines französischen Volksliedes, über dessen
Melodie Mozart eine Anzahl Variationen komponiert hatte, die damals in deutschen
Wohnstuben, insbesondere von klavierspielenden höheren Töchtern,
regelmäßig intoniert wurden. "Ah vous dirais-je, maman" handelt
davon, was eine junge Frau und ihr Galan in einem Gebüsch treiben. "Mozart,
das Ferkel, hatte sich bei der Komposition sicher wieder mal nichts gedacht.
So war es an Hoffmann von Fallersleben, die sittlichen Gefahren, die aus
dem Gebrauch der Mozartschen Variationen für die deutsche Jugend, für
deutsche Frauen und deutsche Treue gegebenenfalls erwuchsen, abzuwenden und
den französischen Freund auszutauschen gegen unseren guten Weihnachtsmann" (Klusen).
Der Nutzen vorhandener Melodien für neue Lieder heisst "Kontrafakturverfahren" und
ist typisch für "Volkslieder" und allgemeiner auch für
das politische Lied. Die Reformation, die katholische liturgische Musik für
unkatholische Lieddichtung verwandte, scheint die erste politische oder Volksbewegung
gewesen zu sein, für die sich dieses Phänomen nachweisen lässt.
Text und Musik der "Volkslieder" gehen, wie sich in diesen Beispielen
andeutet, seltsame und zufällig erscheinende Wege, um zueinander zu
finden. Die Einheit des Lieds, in dem Text und Musik sich zueinander zu verhalten
scheinen wie ein maßgeschnittener Anzug, der mit dem Körper, der
ihn trägt, verschmilzt, ist tatsächlich recht prekär. Die
innere, sozusagen die materiale Einheit des Volkslieds ist also genausowenig
organisch, wie die Einheit des Lieds mit dem "Volk", von dem es
angeblich ausgeht, dies ist. Umso interessanter ist ein Blick auf das Verhältnis
von Wort und Musik im Volkslied.
Wie Hermann Kurzke bemerkt, ist auf Verfasser- und Quellenangaben in den
Liedersammlungen fast generell kein Verlass. Änderungen, welche eher
die Regel als die Ausnahme sind, verschweigen sie fast immer. Es dürfte
nicht übertrieben sein, zu behaupten, dass die nachlässige, sozusagen
unwissenschaftliche Handhabung des Liedmaterials im Prozess der Kanonisierung
erheblich zu seiner Dekontextualisierung und Mystifizierung beiträgt
und insofern konstitutiv ist für die Volksliedwerdung, Entindividualisierung
und Entsubjektivierung des Lieds, das durch die Auslöschung der Spuren
seiner Produktion zum quasiobjektiven Ausdruck des "Volksgeists" wird.
Kurzke weist auf einige musikpsychologische Aspekte hin, die diesen Prozess
unterstützen. Lieder sind anfälliger für Variantenbildung
als nicht zum Singen bestimmte Gedichte. Im Lied bildet die Melodie die Konstante,
das Gerüst; Textänderungen dagegen behindern nicht das Wiedererkennen.
In den Prozessen von Rezeption und Überlieferung wird die Einheit des
Liedes von der Melodie gestiftet, die Integrität des Textes ist zweitrangig.
Singen fragmentarisiert den Text, von dem oft nur einzelne Passagen, Bilder
oder Ausdrücke bewusst gesungen werden, während der Rest mechanisch,
nur mehr als Lautmaterial für die Melodie funktioniert. Unklarheiten,
Unschlüssigkeiten oder Peinlichkeiten, die in einem als Schrift oder
auch im nicht gesungenen Vortrag rezipierten Text als Dissonanzen wirkten,
werden im Lied gerne in Kauf genommen.
"Das Singen dämpft die rationale Kontrolle. Sentimentalitäten
werden leichter gesungen als gesprochen. Das Singen senkt die Schamschwelle
und
erhöht die Pathosbereitschaft" (ibid.). In "Wenn alle untreu
werden" (ursprünglich ein Lied aus den napoleonischen Kriegen,
das ein Motiv aus einem religiösen Lied von Novalis verwendet) weihte
sich die SS unter anderem zum "Liebestod", was bei näherem
Hinhören nicht immer als passend empfunden worden sein kann (ibid.,
S. 223).
"Die rezeptionsentscheidenden Gefühls- und Stimmungswerte" werden
hauptsächlich von der Melodie getragen, wie auch von einzelnen Textfragmenten,
nicht aber vom Text als Einheit. Dieses Phänomen wird vom Verfahren
der Kontrafaktur ausgenutzt, wobei es jedoch passieren kann, dass die Autorität
der Melodie die Oberhand behält gegenüber dem Eingreifen des Textautors: "Die
russisch-leiderfahrene, sehnsüchtig aufsteigende Weise von Brüder,
zur Sonne, zur Freiheit trägt widerspruchslos die todesbereiten Zeilen
Brüder in eins nun die Hände, / Brüder das Sterben verlacht,
nimmt aber Hinzufügungen wie Dem Kommunismus die Ehre oder Schwenket
die Hakenkreuzfahne das Mark aus den Knochen" (Kurzke). Entgegen den
Hoffnungen (vielleicht also Illusionen) der verschiedenen politischen Demagogen
und Propagandisten, die sich die hübsche Melodie zu Diensten machen
wollen, lässt sich nicht mit Bestimmtheit voraussagen, ob und in welchem
Maße vom Rezipienten (der aktiv mitsingen mag oder nur lauschen) die
Auslegung der Gefühlswerte der Melodie durch den auferlegten Text tatsächlich
geteilt wird.
Ein wichtiger Spezialfall des Volksliedes ist die Nationalhymne - obwohl
ihre staatlich-sakrale Aura sie in einer eigenen Sphäre, außer
Konkurrenz, unerreichbar vom Volksliederfußvolk, erscheinen. "Deutschland,
Deutschland über alles" wurde von dem Germanistikprofessor von
Fallersleben, Experte fürs Mittelalter, während eines Badeaufenthalts
auf der damals britischen Insel Helgoland geschrieben (was die deutsche Volkshymne
von anderen Hymnen, beispielsweise der Marseillaise, die ihre Militanz mit
offenem Visier vor sich herträgt, unterscheidet, die oft nicht während
Badeaufenthalten geschrieben wurden). Die Hymne auf den Kaiser Franz von Österreich,
die für das Deutschlandlied recycled wurde, hat Haydn aus dem kroatischen
Volkslied "Vjutro rano" entwickelt, das, wie Elisabeth Bauer erwähnt,
Haydn aus seiner Jugend im österreichisch-ungarischen Grenzland geläufig
war: "Die Melodie ist für die gesamten ersten vier Verszeilen gleich,
bis auf eine neu komponierte Kadenzformel - für die letzten vier Verse
aber borgte Haydn sich ein paar Töne bei seinem Bruder Michael aus."
Auch bei der Herstellung des anderen deutschen Nationalvolkslieds wurde nichts
dem Volksgeistzufall überlassen. Hanns Eislers Melodie zu Bechers "Auferstanden
aus Ruinen" fußt, zumindest in den wichtigen ersten zehn Tönen,
auf "Good bye, Jonny", einem Werk des österreichischen Schlagerkomponisten
Peter Kreuder, das Hans Albers 1939 in dem Nazifilm "Wasser für
Canitoga" gesungen und populär gemacht hatte. Bauer argumentiert,
dass der Kreuder-Schlager im Jahre 1949 noch so populär war, dass die Ähnlichkeit
der Melodien kein Zufall sein dürfte: Eisler "war ein Meister des
musikalischen Zitats". Der Text des Schlagers scheint zudem mit den
Versen Bechers "in heimlicher Beziehung" zu stehen: "Im Refrain
der zweiten Strophe von Good bye, Jonny heißt es zum Beispiel, durchaus
passend und prophetisch: 'Eines Tages, eines Tages - mag's im Himmel sein,
mag's beim Teufel sein - sind wir wieder vereint.' So spricht alles dafür,
daß Hanns Eisler in voller Absicht ein paar Töne aus dem alten
Schlager in der neuen Hymne versteckt hatte, und damit der DDR die Chiffre
des Abschieds gleich mit auf den Weg gab."
5.
Die weiter oben beschriebene Form der bürgerlichen Aneignung der "Volksmusik" im
19. Jahrhundert findet noch heute gelegentlich statt und wird auch manchmal
beim Namen genannt. Ein Musterbeispiel hierfür stammt von einem Journalisten
der "tageszeitung", der die Folk-Punk-Band "Attwenger" vorstellt: "Ihre
Auftritte gleichen Teufelsaustreibungen. Das Objekt der Beschwörung
ist die Volksmusik. Sie soll von bösen Geistern befreit werden - von
Kunst, Kitsch und Kommerz. (…) Attwenger wollen der Volksmusik ihre
Seele zurückgeben". Davon abgesehen, dass sich die Musik dieser
Band auch ganz anders hören und verstehen lässt, als diese Formulierungen
(auch wenn sie die Zustimmung der Band finden mögen) nahe legen, ist
es offensichtlich, dass hier nicht so sehr Musik, sondern eine angenommene
außermusikalische Absicht, der die Musik angeblich diene, beschrieben
wird. Es wird hier, ganz wie vor zweihundert Jahren (in der Romantik, die
auch so hieß) behauptet, die Volksmusik habe eine Seele, deren Aussehen
im Prinzip bekannt sei und die durch "Kunst, Kitsch und Kommerz" vorübergehend
verunstaltet worden sei. (Damals bekam etwa Heine solche Unverschämtheiten
zu hören, später einmal soll Bob Dylan manchen aufrechten Folkies
als der beispielhafte Verräter am SchönenWahrenGuten gegolten haben.)
Die als dringend notwendig empfundene Neu-Interpretation der Volksmusik steht
im Zeichen der Restauration ihrer "Seele". Was der genaue Inhalt
der "Seele" denn sei, ist freilich historisch und gesellschaftlich
jeweils verschieden bestimmt durch die jeweils unterschiedlichen Absichten
und gesellschaftlichen Positionierungen der Interpreten bzw. der Interpreten
der Interpreten. Wie schon in der Frühromantik kann auch heute die zu
restaurierende Seele der Volksmusik bürgerlich-rechts ebensogut wie
plebejisch-links gesucht und gefunden werden. Wenn aber das intellektuelle
Niveau erst mal bis auf "die Seele" herabsinkt, folgt der klassenübergreifende
Kompromiss meist auf dem Fuße.
Die kritische Gegenposition, die die befreienden Nebenwirkungen der kapitalistischen
Produktionsweise gegen das populistische Geschwätz vom "plebejischen
Volkslied" und seiner Seele unterstreicht, ist die von Michael Scharang,
aus dessen Text bereits eingangs zitiert wurde: "Es könnte um Volksmusik
und Volkskultur also nicht besser bestellt sein als zur Zeit; und es zeichnet
sich alles andere als Stagnation ab, denn ein neuer Hoffnungsstrahl fällt
auf die Volksmusik und erhellt dieses dunkle Kapitel der Menschheitsgeschichte
bis in den letzten Winkel. Der Hoffnungsstrahl heißt Kulturindustrie.
Sie kommerzialisiert die Volksmusik einschließlich jenes lächerlichen
Restes, den die Volkstumsforscher noch geschwind ins Archiv retten, und das
Unheil, das die Kulturindustrie dabei anrichtet, erweist sich als Segen.
Denn Musik, die heute im besten Fall als Ware taugt, barg nie eine andere
Qualität in sich. Kommerzialisierung bringt die Volksmusik erst zu sich;
und das schamlose Geschäft enthält sogar ein Moment von Emanzipation,
wenn auch ein groteskes. Wie die Wiener Philharmoniker die Wiener Klassik
vom spezifisch Österreichischen erlösen, indem sie die größten
Triumphe in Japan feiern, befreien die Zillertaler Schürzenjäger
die Tiroler Volksmusik vom Bodenständigen, indem sie holländische
Touristen zum Jodeln zwingen, womit diese greuliche Ausdrucksweise endlich
zum Ersticken gebracht wird.
Die Kultur, Brecht hat es erkannt, ist ein Palast, der aus Hundescheiße
gebaut ist. Volkskultur mitsamt Volksmusik, bleibt zu ergänzen, ist
ein Palast, der aus alter, hart gewordener Hundescheiße gebaut ist,
welche es verdienen würde, endlich zu zerfallen und sich mit dem Straßenstaub
zu vermischen."
Doch in den Poren des Falschen überwintert das Schöne. Selbst ein
deutsches "Volkslied" kann etwas Mitteilenswertes enthalten. Die
Aufgabe der Musikschaffenden ist es, diskret hierauf hinzuweisen, ohne gleich
alles ans grelle Licht zu zerren. In finsteren Zeiten hat der Ton der Kunst
gedämpft obskur zu sein, seltsam, sublim, unpopulär. Und sollte
sie Teufel in den Volksliedern finden, dann sollte sie sie nicht austreiben,
sondern einladen zu bleiben.
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