JUGEND /
ARBEIT / CD / 2007
Booklet-Text:
ROMANTISCHES entillusioniert
Der Knabe, der in Bedrängnis ungehört mit sich überschlagender
Stimme ruft. Der vielleicht Halbwüchsige, der seine Sehnsucht als stilles
Leiden erfährt. Die Verlassene, die sich beim Träumen nicht mehr
unter den Lebenden wähnt. Der Verlorengegangene, der sich - warum auch
immer - nicht mehr mitteilen kann. Einsame, denen die Nachtigall von Geborgenheit
spricht, doch keine Menschen. Paare, die nacheinander singen, nicht miteinander … .
Zweifellos, unter 'Jugend' stellt man sich etwas anderes vor. Zumindest öffentlich
ist der Begriff mit gänzlich anderen Vokabeln gepaart: mit Überschuss,
Unverbrauchtheit, mit Zukunft. Auf keinen Fall assoziieren sich Schmerz,
Weltflucht, Perspektivlosig-keit. Oder vielleicht doch? Was ist für
wen wie Realität? Und wer spricht?
Schumann und Eichendorff, Schubert, Brahms, Uhland, Mörike, Wolf, Wagner,
Rückert und Mahler. Auf den ersten Blick sind es die 'großen Namen'
der deutschen Romantik, die Oliver Augst, Marcel Daemgen und Christoph Korn
- die Künstlergruppe ARBEIT aus Frankfurt/Main - und befreundete Musiker
inter-pretieren. Aber, wie seltsam klingt das Gehörte. Was aus gekannt
geglaubten Texten und Liedern entwächst, ist weitgehend frei von Schwärmerei,
Glanz, ja von Romantisierendem jeglicher Art. Umso mehr artikuliert sich
ein Selbst- und Weltempfinden, das wenig behaglich erscheint. Denn die hier
sprechen, wirken hautlos, treten nahe; die uns gebräuchlichen Filter,
Dämpfer und Schutzmechanismen sind ihnen, wie es scheint, ganz und
gar fremd. Unterbrechungslos mögen sie - also doch Jugend!? - Schmerzliches
und Enttäuschendes registrieren, und ob des Widerspruchs zwischen Wirklichkeit
und Ideal Unbehaustheit empfinden.
Eine Assoziation flackert kurz auf. So müssen jene Vorgänger zeitlebens
gelitten haben unter der vermeintlichen Chance ihrer Generation. Hineingeboren
ins '89er Jahr, Kinder des gewaltigen Umbruchs, aufgewachsen mit der Ahnung
um das Zündeln ringsum, Zeugen gewiss vermeidbarer Kriege und Katastrophen,
ausgeliefert hernach an die unendliche Zeit der wievielten Restauration.
- Es liegt auf der Hand, gelegentlich wieder an jene deutschen Intellektuellen
zu denken, deren kleine verstreute utopische Zirkel unter dem Stichwort‚ deutsche
Frühromantik' firmieren. Denen Anna Seghers - eine Vergessene von heute
- attestiert, sich um und nach 1800 „ihre Stirnen an der gesellschaftlichen
Mauer wund“ gerieben zu haben. - Was nur haben sie kommen gesehen?
Was konnten sie weshalb - und vielleicht anders als wir - nicht verschweigen?
Für die Frankfurter Künstler sind die hier versammelten Highlights
des romantischen Kunstlieds, die jeder Konzertgänger schätzt,
Resultate einer Filterungs-arbeit. Jedes neue Projekt der Gruppe beginnt
mit der Sichtung von möglichst viel und verschiedenem Material, das
sich dann zur Verarbeitung eignet. Das heißt hier konkret, zur Vergegenwärtigung
mittels Klängen, Instrumenten und Techniken von heute.
Was hier erklingt, ist ein Substrat. Daemgen und Korn, die zwei wesentlichen
Bearbeiter/Arrangeure/Komponisten der Platte, haben das Liedgut musikalisch
seziert, Melodien nahe den Originalen belassen, den instrumentalen Unterbau
neu organisiert. Manche Sounds sind Produkt und Dokument elektronischer Mittel
und Medien - andere resultieren aus der Verrückung in ein anderes Genre.
Schumanns Mondnacht, Brahms Heimkehr, Haydns Tod und Schlaf gar wirken wie
Miniaturen von Klangkunst. Sie sind auf rauschende Flächen gebaut, auf
pfeifende Frequenzen, Pattern elektronischen Schlagzeugs. Andere Titel grundiert
eine Trio-Besetzung aus Kontrabass, Schlagzeug, Klavier. Nicht, dass die
Resultate jazzartig klängen - doch Hugo Wolf, Brahms oder Wagner rücken
so ein Stück vom introvertierten Kunstlied zum knappen, avancierten
Chanson.
Welche Mittel auch immer gewählt sind, die Verfremdung zielt auf Verdeutlichung.
Immer ist es bezweckt, das als bekannt, das heißt als Kunst Akzeptierte
sehr genau, mit neuen Ohren zu hören und auf sich und auf Gegenwart
zu beziehen. Ganz gleich, ob die Urheber Udo Jürgens, Hanns Eisler
und Joseph Haydn sind oder ins 19. Jahrhundert gehören.
Die Projektion, Jugend artikuliere sich hier, rückt, was zu hören
ist, in der Tat in ein schärferes Licht. Verschüttete, womöglich
unterbewusste, aber auch aktuelle Konnotationen treten zu Tage. In Goethe/Schuberts
Erlkönig ist es der Aspekt des Kindesmißbrauchs, aus Wolfs Verborgenheit
spricht jugendliche Todessehnsucht. Der Welt abhanden gekommen zu sein ist
plötzlich nicht mehr Erfahrung nur des romantischen Künstlers,
sondern die vieler unvermittelt Entführten, Internierten schlechthin.
Der Song begegnet hier deshalb strukturell verkreuzt mit einem Gedicht von
Paul Celan.
Als ein Schlüsselstück der Platte erweist sich die Miniatur aus
Mahlers Kindertotenliedern. Oft denk ich, sie sind nur ausgegangen erzählt
außer vom individuellen Erlebnis des Schreibers vom Schicksal einer
ganzen (jungen) Generation. Eine jüdische, aber nicht ausschließlich
nur jüdische Jahrhunderterfahrung scheint hier auf bedrängende
Art vorformuliert.
Tröstliches, Hoffnungen, Gegenentwürfe womöglich sind auf
dieser CD, die ähnlich wie die früheren Produktionen An den deutschen
Mond oder Marx wie ein Konzeptalbum wirkt, reichlich rar. Keinesfalls sind
sie auf der Ebene naiver, geschönter, das heißt reduzierter Weltsicht
zu suchen - in populistischen, schlagerhaften Klängen und Sounds, in
Momenten von Emphase, die die Platte keineswegs ausspart. Es geht nicht
um neue Betäubung. Die Nebel zu lichten, Realität zu gewinnen,
das wäre heute schon utopisch genug.
Die Platte Jugend ist Resultat mehrjähriger Arbeit und vertrauensvoller
Kooperation. Im Deutschlandfunk-Kammermusiksaal wurde im März 2005
zunächst die Bühnenversion uraufgeführt - unter dem Titel
Jugend. Vol.1: Freud. Ein Projekt, das zum hier Vorliegenden stark differiert.
Für die CD wurden die Instrumente sowie die Stimmen der Sprecherin und
der zwei Sänger gleichfalls in Köln eingespielt. Dieses Rohmaterial
haben Augst, Daemgen und Korn mit nach Frankfurt genommen, auf ihren PCs
für sich gesichtet und mit elektronischen Mitteln grundiert, übermalt,
strukturiert. In kollektiven wie individuellen Bearbeitungsphasen schälten
sich die Signaturen heraus, die einzelne Titel unüberhörbar färben.
Wir hören sie mit ihren verschiedenen Stimmen: auffahrend und beinah
nur gehaucht, geflüstert durchs Megafon, introvertiert und fast wie
im Rausch. Was werden die heute Jungen aus der Ordnung der Titel, Sounds
und Subtexte für sich entnehmen?
FRANK KÄMPFER
CD Information / Titel
Booklet-Text
Presse
Atelier Neue Musik, Deutschlandfunk, 2017
JUGEND - Feature Deutschlandfunk, 2007
ARBEIT, JUGEND - Feature Radio Z,
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