VERSCHWINDEN
/ 2007
Auftauchen des Fremdkörpers - ein Post Scriptum zum Verschwinden.
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"Es ist unsere Dauer, die denkt; in seiner zeitlichen Distanz würde
das Bewusstsein als erstes seine eigene Geschwindigkeit produzieren, die Geschwindigkeit
wäre demnach Kausalidee, Idee vor der Idee." (Paul Virilio, Ästhetik
des Verschwindens).
In George Bernard Shaws 1914 uraufgeführten Komödie Pygmalion, später
unter dem Musical-label berühmt geworden als "My Fair lady", wird
eine Travestie der Identität durchgespielt. In Mr. Ripley gibt es einen
Mord, das Verschwinden eines Menschen, der durch einen anderen ersetzt wird.
In "The Game" verwechselt der Protagonist seine Identität mit
seiner Check-Karte. In "Mullholland Drive" tritt die gedächtnislose
Rita als erotischer Fremdkörper ins Leben Anderer (nur James Bond bleibt
immer der Gleiche). Und dann gab es da noch einen Film, an den ich mich nicht
mehr erinnere. …"
Verschwinden, Erinnerungsverlust. Faszination und Horror. Hegel sprach von der
Furie des Verschwindens. Was da ins Wanken gerät ist Identität, die
etwas Stabiles erfordert, das sich durchhält in der Dauer. Das ist Geschichte.
Deren Riss ist das Vergessen, das Verschwinden. Schwarze Löcher. Pyknolepsie
des Kosmischen.
Dagegen der Fremdkörper: plötzlich ist er da, er besitzt kein Woher
oder Wohin, seine Bahn wird von den Beobachtern (den Theoretikern) genau verfolgt,
jeder Schritt wird auf Schaden und Nutzen hin interpretiert. Der Fremdkörper
besitzt Zeichen, die auf Geschichte, Herkunft und Identität hindeuten. Eliza
Doolittle wird vom Phonetiker untersucht, der postuliert, sie sei eine ungarische
Prinzessin. Der "Piano-Mann" schien aufgrund seines sprachlichen Ausdrucks
aus England zu stammen, seine zarten Hände dokumentierten betuchte Abstammung.
Der Fremdkörper ist das, dem der Kontext fehlt. Ein Bezeichnetes ohne Bezeichnendes
(Signifikat ohne Signifikant). Das ist paradox, aber dennoch möglich. Gegenstände
dieser Art sind UFOs, oder "Das Ding aus einer anderen Welt", der Monolith
in Kubricks "2001", Gegenstände also, über die es keine genauen
Informationen gibt und die das Feuer der Bedeutungsgebungen in einen lodernden
Brand versetzen, in eine unendliche Projektionsfläche. Die Namensbebung
des Piano-Manns, der am Ende nur leidlich ein Liedchen auf dem Klavier trällern
konnte, weist auf die wuchernde Projektion in jüngster Gegenwart hin, ebenso
wie die Zuweisung Elizas zur ungarischen Prinzessin. Eine Symphonie erinnert
von Tropfsteinhöhle bis Liebesabenteuer. Musik, abstrakte Kunst auch, jenseits
von Sprache und Darstellung konzipiert, sind die archaischen Reisetechniken und
diesem UFO / Ding verwandt. Schon Rilke wusste nicht, an welchem Ort die gerade
gehörte Musik ihn absetzte. Klang ist das Transportmittel in die metaphysische
Welt, in die wir mit ihr eintreten, um nach ihrem Erklingen aus ihr wieder zu
verschwinden.
Auftauchen - Verschwinden, wie der merkwürdige Besucher der Irrenanstalt
aus "K-Pax" (Kevin Spacey), der uns bis zum Schluss darüber im
Unklaren lässt, ob er Hochstapler oder Ausserirdischer ist. Oder aber die
Enttarnung des "Dings", die das Gebäude von Spekulationen im Bruchteil
einer Sekunde in Rauch aufgehen lässt, eine Ernüchterung wie nach einem
Rausch. Die Suche nach Identität, das Spiel mit ihr, ist tief greifendes
Kennzeichen einer gegenwärtigen ekstatischen Gesellschaft, die auf der Suche
nach Selbstfindung ist wie ebenso und gleichzeitig nach Selbstverlust. Bereits
der Phänomenologe Maurice Merleau Ponty war bereits 1945 vom eigenen Leib
als dem Vexierbild zwischen Gegenwärtigkeit und Selbstentzug ausgegangen.
Ich ist demnach keine Instanz oder feste Grösse, es ist eine Bewegung, deren
Identität von der Geschwindigkeit abhängig ist, in der sich die Bewegung
vollzieht - und von der Form und Wucht jener Bewegung, die die eines stürzenden
Pendelns, oder eines schwerelosen Kreisens (oder was auch immer) annehmen kann.
Und deren Bewegung unsichtbarer, unwahrnehmbarer wird, je weiter die Pole ihrer
Schwingung voneinander entfernt sind. So weit, dass ein Post Scriptum sich plötzlich
in eine Namensinitiale verwandeln kann wie etwa: Philip Staufen.
Dr. Steffen Schmidt (Institute for Cultural Studies, Züricher Hochschule
der Künste)
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Programmheft-Text ("Auftauchen des Fremdkörpers" von Dr. Steffen Schmidt)
Kurz-Info (englisch)
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