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VERSCHWINDEN / 2007

"Warum ist nicht alles schon verschwunden?"

"VERSCHWINDEN": ELECTRONIC MUSIC THEATER & JOHN BIRKE HEGEN FLUCHTFANTASIEN IM BRUT, WIEN
Von Judith Helmer
Konstruierte Identitäten zwischen Fiktion und Realität sind wegen der Dynamiken, die diese Zwitterwesen auf der Bühne und im öffentlichen Raum auszulösen vermögen schon länger das Lieblings-Steckenpferd der Performanceszene. Da ist die reale Vorlage eines Interviews mit einem Rumänen, der 1999 in Toronto im Krankenhaus erwacht und jahrelang vorgibt, sich an nichts erinnern zu können um seine eigene Identität ganz neu kreieren zu können, natürlich ein gefundenes Fressen. Doch der junge Dramatiker John Birke, in Wien bekannt durch die Uraufführung seines Stücks "pas de deux" im Burgtheater Kasino, ist gemeinsam mit der experimentellen Gruppe Electronic Music Theater (aus Frankfurt am Main) von dieser Vorlage aus in eine ungewöhnliche Richtung abgebogen: zu Fluchtfantasien. "Verschwinden" ist ein dicht gewebtes Stück intelligenten Musiktheaters, das bei seinem Gastspiel im brut Konzerthaus als Österreichische Erstaufführung zu erleben war.
Die als Kriminalstory dargebrachte, waghalsige Geschichte der vorgetäuschten Amnesie ist nur der Angelpunkt für vielschichtige, genreübergreifende Variationen über Fluchtfantasien und deren Grenzen in der Realität. Das Setting: Fünf Musiker/Performer sitzen an fünf Schreibtischen im engen Raum ganz nah vor dem Publikum. Sie tippen Sätze und Sprachfetzen in ihre Laptops, und das Sprachgewirr wird live auf die Wand hinter ihnen projiziert. Ein eigener, flüchtiger Sprach-Tipp-Lese-Rhythmus entsteht, bis die Buchstaben schnell wieder vom Bildschirm verschwinden wie bei einem Kinoabspann. Man springt innerhalb der Geschichte vor und zurück, wiederholt Passagen oder greift vor, wie es einem bei der Recherche einer Story im Archiv mit verschiedenen Quellen passieren könnte.

Der Text wird zur Partitur

Auch der Umgang mit der gesprochenen Sprache (Michaela Ehinger, Oliver Augst und John Birke an den Mikrophonen) ist sowohl musikalisch wie auch theatral. Die Stimmen werden wie Instrumente eingesetzt, und der Text wird zur Partitur. Insofern ist der Name der Gruppe Programm: Music Theater. Electronic kommt auch und zwar vielfältig und kreativ zum Einsatz, jedoch nicht mittels Laptop, sondern mit vergleichsweise altbackenen Elektroklangerzeugern wie Korg, Keybord und 16-Spur Mischpult, bedient von Thomas Desi und Marcel Daemgen. Kinderspielzeug und Erwachsenenspielzeug (Handy) dürfen auch ihren Soundanteil beitragen. Diese musikalische Collage von aggressiv bis harmonisch, von trashig bis fein ziseliert funktioniert wie ein lebendiges Archiv und ist - ähnlich wie die Sprache musikalisch eingesetzt wird - höchst performativ. Dabei bleibt die Darstellung visuell reduziert. Kaum, dass mal jemand sich hinter seinem Schreibtisch erhebt. Eher handelt es sich um ein Live-Hörspiel, bei dessen Entstehung man als Zuschauer zuschauen darf, oder ein Konzert, bei dem die Musiker neben Klängen auch Geschichten produzieren.

Fussnote: Baudrillard

Dieses Musiktheater knüpft also sukzessive ein immer engmaschigeres Netz zur Idee des Verschwindens. "Warum ist nicht alles schon verschwunden?" wird mit Jean Baudrillard gefragt. Dessen letzter Text trägt diesen Titel und entwirft eine neue Bildtheorie wie auch die Möglichkeit einer kritischen Sicht auf die Digitalisierung des Denkens bis hin zu These von der Unmöglichkeit der Repräsentation von Realität im Digitalen - eine gute Folie, um durch sie den Abend zu betrachten.

Bevor das Stück von EMT und John Birke in einer romantischen Verklärung der Idee des plötzlichen Verschwindens und des Aufgebens des (Lebens-)Plans (im Vertrauen darauf, dass immer irgendetwas als nächstes passieren wird) selig endet, wird Philipp Staufen (so der Verschwinde- oder Kunstname des Scheinvergessers) zitiert, wie er von der Vergeblichkeit der Flucht vor dem Selbst berichtet. Auch wenn er Öffentlichkeit, Gerichte und Behörden jahrelang täuschen konnte, vor sich selber konnte er nicht fliehen, auch wenn der Wunsch nach Vergessen und Neuerfinden groß war. "ich war ich" war nur Fiktion, "Ach, und weg" blieb unerfüllter Traum. Weg wünschte man sich aus dem EMT nie, vielmehr wünscht man sich schon die nächste Einladung der Gruppe herbei.

"Verschwinden" ist noch am 5. und 6. März, jeweils um 20 Uhr im brut Konzerthaus zu sehen.

CORPUS (5.3.2008)



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Programmheft-Text ("Auftauchen des Fremdkörpers" von Dr. Steffen Schmidt)

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