WINTERREISE / 2021
"Vom Ende der Geschichte"
zur Winterreise von Augst & Daemgen
von Max Dax, März 2021
Man stelle sich vor, Wilhelm Müller würde heute, am Ende der Geschichte, die Apokalypse ist bereits seit geraumer Zeit im Gange, abermals auf seine Winterreise aufbrechen. Er würde von Metropolis zu Metropolis wandern. Die dazwischen liegenden Steppen vereist, die Städte in Kaltland sind nicht mehr ‘deutsch’, längst sind sie zu Schmelztiegeln aller Herren Rassen und Nationalitäten geworden. Artefakte und Glitches vergangener Zeiten sind hier und da dennoch präsent, sie brechen da und dort hervor. Der Grund für die Unmöglichkeit der Liebe mag abermals ein Standesunterschied sein, hier die einheimische Frau, dort der staatenlose Illegale. Sein Schicksal: doomed. Die heutige Kälte ist einerseits, trotz oder wegen des Klimawandels, der in Momenten bitterkalte Winter des Anthropozäns mit seinen immer wieder ins Mark gehenden Kältestichen. Andererseits lauern an allen Straßenecken der großen, endlosen Städte die Krähen, die wie die Sniper einer Bürgerwehr keine Empathie zeigen, im Gegenteil, den Wanderer zum Fortschreiten zwingen, immer auf der Hut vor der Denunziation.
Nun, es wird nicht weit mehr gehen
An dem Wanderstabe.
Krähen, lasst mich endlich sehn
Treue bis zum Grabe!
Der Wanderer folgt nicht dem Wandertrieb oder gar der Wanderlust. Trost spendet alleine eine Melodie, die ewige Melodie Schuberts, die längst ebenso viele Medienwechsel durchgemacht hat wie Generationen seitdem gelebt haben, um irgendwann am Ende der Geschichte anzukommen. Die Sprachbilder Müllers, eingesungen von Oliver Augst im harmonischen Zusammenspiel mit kalt gerasterten Beats und digitalen Störgeräuschen Marcel Daemgens, aber auch bisweilen begleitet von romantischen Streichern oder einer atonal gespielten elektrischen Gitarre, haben nichts von ihrer Aktualität verloren. Im Gegenteil. Sie funktionieren als schlüssige Bilder auch heute, im Abgesang auf das Alte Europa. Auf die Welt, wie wir sie kannten.
Mein Herz, in diesem Bache
Erkennst du nun dein Bild?
Ob’s unter seiner Rinde
Wohl auch so reißend schwillt?
Es gibt einen Hoffnungsschimmer. Im Wirtshaus hinter dem zugefrorenen Fluss. Hier ist es warm, auch der Alkohol wärmt. Hier, im Wirtshaus, ist der Staatenlose in einer zufälligen Niemandsbucht angelangt. Hier, im Wirtshaus, spielt das Streichquartett noch die alte Melodie. Gilt der alte Spruch noch, demzufolge dort, wo Musik gehört wird, sich auch gerechte Menschen aufhalten? Der Wanderer vertraut der Melodie und der Musik, und er findet im Geiste einen Moment des Friedens. Nein. Findet er nicht. Wegen Corona geschlossen.
Nun weiter denn, nur weiter,
Mein treuer Wanderstab!
Aufgewacht am Strand, der in Wirklichkeit eine schneeverwehte Steppe ist. Aus den Memoiren eines Wanderers, der Schritt für Schritt durch das Winterweiß knirscht:
Der gerechte Mann ist derjenige, der lang genug an einem festen Ort verweilt und daher eingeweiht ist in die Schicksale und die Beweggründe der anderen. Er kann gerecht urteilen. Vielleicht hat es die Fügung vorgesehen, dass ich doch noch einem gerechten Mann begegne, der mich zusammenführt mit dem Mädchen, das von Liebe sprach, ihre Mutter gar von Eh’. Denn das Ende der Geschichte kann auch der Beginn einer neuen Geschichte sein. Das Anthropozän kann die Menschen auch dazu zwingen, aufeinander zuzugehen, um einer neuen, achtsameren Geschichte den Weg zu ebnen. Dann wäre mit einem Mal wieder vieles möglich. Und überhaupt ist die Apokalypse laut der Offenbarung des Johannes nicht gleichzusetzen mit dem Weltuntergang.
Drei Sonnen sah ich am Himmel stehn,
Hab lang und fest sie angesehn,
Und sie standen da so stier
Als wollten sie nicht weg von mir.
Heute, im 21. Jahrhundert, konsumieren wir längst mithilfe von digitalen Prothesen die unterschiedlichsten Medien zur gleichen Zeit. Es gibt ein Auge und ein Ohr in jedem Zimmer. Wir verlieren uns in der Einebnung von Vergangenheit und Zukunft, und auch unsere Tage beginnen sich anzugleichen wie Flintsteine in der Brandung. Davon dreht der Leiermann sein Lied, auch wenn es ihn friert. Denn es ist immer noch kalt in Deutschland.
Wenn wir Unsterblichkeit als einen kosmischen Bewusstseinsstrom begreifen, der vom Einen in den Anderen fährt, dann sind der Text und die Melodie der Winterreise der beste Beweis dafür, dass durch das behutsame Neuanfassen der Lieder Wilhelm Müllers und Franz Schuberts eine universale Geschichte stets in eine neue Gegenwart überführt wird. Sie bleibt unvergesslich, so wie sie zum ersten Mal gesungen wird. Abermals. Und auch in Bälde.
Wunderlicher Alter,
Soll ich mit dir gehn?
Willst zu meinen Liedern
Deine Leier drehn?
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Trailer
Premiere-Live-Mitschnitt
Presse
Programmheft-Text von Max Dax
Fotos
CD