KOMET / 2006
Komet, Schumann Prospekt
Hanno Ehrler
"Der Komet" heißt eine Zeitschrift aus dem 19. Jahrhundert,
in der
Robert Schumann viele Artikel veröffentlichte. Später hat der Komponist
sich das Blatt zum Vorbild für die Gründung seiner "Neuen Zeitschrift
für Musik" genommen. Dieses biographische Detail war der Ansatzpunkt
für die Schumann-Arbeit der Frankfurter Künstlergruppe "electronic
music theatre", insbesondere das Sinnbild des Kometen. Es gestattet viele
Anknüpfungspunkte zur Persönlichkeit und zum Werk des Komponisten. "Komet" kommt
aus dem griechischen und bedeutet Schweifstern oder auch Irrstern. Als einen
Irrstern verstehen die Frankfurter Künstler die Person Robert Schumann.
Sein unruhiges Leben ist von einer unermüdlichen Text- und Musikproduktion,
von extremen Selbstansprüchen, von Zweifeln und dem Scheitern als Pianist
gezeichnet. Schumann beschreibt das in seinem Tagebuch als einen gordischen Knoten:
Man "knüpple und knüpple und kann ihn doch nicht aufwickeln und
verwirrt sich noch mehr".
Auch der Untertitel des Stücks, "Schumann Prospekt", hat seine
tiefere Bedeutung. Tatsächlich ist das Ganze eine Art Prospekt, ähnlich
einer Firmenbroschüre. Ein solcher Werbeartikel zeigt die Fakten in einem
bestimmten, meistens schönfärberischen Licht. Schönfärberisch
ist die Arbeit der Frankfurter Künstlergruppe nicht. Aber sie ist subjektiv.
Sie möchte keine Fakten auf die Bühne bringen, sondern persönliche
Erfahrungen, eigenes Erleben und individuelle Assoziationen zum Thema Schumann.
Seit vielen Jahren bereits arbeiten die Künstler zusammen und realisierten
Projekte zu den Themen Heimat, Marx und Jugend. Dabei haben sie eine spezielle,
ja einzigartige Technik entwickelt. Sie ist ihr Markenzeichen und gibt ihren
Auftritten eine unverwechselbare Charakteristik.
Obwohl sie gemeinsam auftreten, haben sie das Stück, das zu sehen ist, nicht
zusammen komponiert. Natürlich einigen sie sich über ein Thema und
diskutieren dieses. Aber dann beschäftigt sich jeder allein damit. Jeder
von ihnen recherchiert, sammelt Material, bearbeitet es, improvisiert und komponiert,
bis er schließlich einen Pool von fertigen Elementen besitzt. "Archiv" nennen
die Künstler diese Material-Pools. Bei der Aufführung findet dann eine
Improvisation statt, bei der die einzelnen Mitwirkenden Elemente aus den Pools
verwenden und sie spontan im live-Kontext kombinieren. Man kann also sagen: "Electronic
music theatre" ist eine Improvisation über ein Thema - hier Robert
Schumann - bei der jeder Darsteller seine ganz individuelle Sicht einbringt.
Denn jeder von ihnen hat eigene künstlerische Schwerpunkte. Gemeinsam ist
ihnen die Arbeit mit akustischen Material, jedoch mit ganz unterschiedlicher
Ausrichtung. Oliver Augst studierte visuelle Kommunikation und Performance. Er
konzentriert sich auf Stimme und Gesang und entwirft außerdem die visuellen
Elemente der Aufführung, die Aufstellung der Künstler im Raum und das
Bühnenbild. Marcel Daemgen absolvierte eine klassische Musikausbildung und
hat eine große Affinität zum Popmusikbereich; wenn Pop- oder Techno-Rhythmen
zu hören sind, dann kommen sie oft aus seinem Material-Pool. Thomas Dézsy
ist ein Komponist, der mit Techniken der zeitgenössischen Musik arbeitet.
Als Schauspielerin liegt Michaela Ehingers Schwerpunkt auf dem gesprochenen Wort
und der Geste. Christoph Korn schließlich studierte Politologie und Philosophie;
er nähert sich dem Thema mit experimenteller Textarbeit und radikalen Geräuschklängen.
Die Arbeit des einzelnen Künstlers zum Thema Schumann kann beispielsweise
folgendermaßen aussehen: zunächst wählt er einige Schumann-Klavierlieder
aus - weil er sie gut kennt oder weil sie ihn aus ganz persönlichen Gründen
faszinieren. Dann gibt er sie in den Computer ein. Dazu verwendet er eine CD.
Alternativ führt er sie selbst auf. Oder er interpretiert sie auf einem
anderen Instrument oder nur mit Stimme. Möglicherweise spricht er zusätzlich
den Liedtext, nimmt ihn auf und fügt ihn als Sprachklang den Dateien im
Computer hinzu. Jetzt möchte er Musik und Text verfremden. Mit Klangbearbeitungsprogrammen
schneidet er alles in kleine Schnipsel und fügt einige dieser Fragmente
wieder zusammen. Dann lässt er das Ganze durch einen Klangverzerrer laufen,
bei dem der Sound des Klaviers sich in ein Klangband aus Geräusch verwandelt.
Schließlich fügt er noch einige Klicks oder andere Sounds hinzu und
hat nun ein Element für seinen Material-Pool. Auf der Bühne kann dieses
Element noch weitere Prozesse der Verfremdung und Bearbeitung durchlaufen, wenn
etwa ein Text durch ein Megafon gesprochen wird oder nur Teile für die Improvisation
verwendet werden. Das macht jeder der Künstler auf seine Weise, nur eben
mit unterschiedlichen Ausgangsmaterialien - jenen, für die er sich persönlich
interessiert. Die für Schumann bedeutsamen Motive Heimat, Nacht, Einsamkeit,
Angst und Tod erscheinen transformiert in einer individuellen und gegenwärtigen
Sicht.
Die Elemente aus den einzelnen Material-Pools, die dabei zusammenkommen, bilden
eine äußerst vielfarbige Palette aus Worten, Klängen sowie Handlungs-
und Spielanweisungen. Es finden sich Zitate, entweder gesprochen oder vom Tonträger
gespielt. Es gibt Popmusik-ähnlich bearbeitete Lieder, von Robert Schumann
und anderen Komponisten. Daneben stehen extreme Geräuschelemente aus Rauschen,
Zischen, Knacken und Knistern, ebenso gesprochener Text mit Anweisungen zu einer
szenischen Realisierung. Auf der Bühne spinnen die Künstler akustische
Fäden, die sich verdichten oder ausdünnen, die sich intensivieren oder
auch einige Zeit gleichförmig laufen. So entfaltet sich ein vielschichtiges,
dynamisches Gewebe aus Melodien, Stimmen, Texten, Geräuschen und theatralischen
Gesten.
Außerdem entsteht eine ganz eigenwillige Klangcharakteristik, die ebenso
einzigartig wie die Arbeitsweise der Frankfurter Künstlergruppe ist. Vor
allem zwei Aspekte bilden das Feld, auf dem sich diese Charakteristik entfaltet.
Der eine und vielleicht wichtigtse Pol, um den die Arbeit der Künstlergruppe
kreist, ist das Lied. Mit beinah magischer Kraft, so scheint es, zieht es die
Künstler an. Es ist der Ausgangspunkt für alle ihre Projekte und die
Arbeitsfläche für die kompositorische Kreativität. Es dient als
Matrize für die Form, in die die musikalischen Ergebnisse eingebettet werden.
Liedformen und Anklänge an Liedformen scheinen immer wieder während
der Aufführung auf. Die Künstler spielen in diesen Formen, aber auch
mit ihnen. Sie setzen sie zitathaft ein oder als ein Zeichen, das dem Hörer
vertraut ist, weil er es gut kennt. Sie experimentieren aber auch, verfremden
die Liedformen und verwandeln sie in anderes. Oder sie kombinieren das klassische
Klavierlied mit einem Popsong und fügen Elemente aus beiden Genres zusammen.
Der zweite Arbeitsschwerpunkt der Frankfurter Künstlergruppe ist das Geräusch.
Geräusche sind in der Musik ja mittlerweile hoffähig geworden. Im zeitgenössischen
Komponieren können sie ohne weiteres neben instrumentalen Tönen stehen,
und in der elektronischen Musik gehören sie seit jeher zum Klangrepertoire.
Auch in der Popmusik bilden sie wichtige Klangbausteine, die den Sound einer
Gruppe oder Band bereichern, selbst in ganz kommerziellen Produktionen. Ganz
typisch zum Beispiel ist der Klang einer Nadel, die in einer leeren Schallplattenrille
läuft. Früher war das ein Störgeräusch. Im Zeitalter der
digitalen CD wird es als musikalisches Element empfunden. Solch musikalisierte
Störgeräusche, die die Künstler zum Teil per Computer, zum Teil
mit anderen elektronischen Geräten wie etwa Mischpulten erzeugen, bilden
den Klanggrund ihrer Performance.
Dazu kommt die theatralische Komponente. Sie betrifft zunächst die Aufstellung
der Tisch- und Stuhlreihen, die das optische Zentrum der Aufführung bilden,
ergänzt durch ein Bühnenbild. Auf den Tischen stehen eine Menge Kisten
und Kästen. Es sind elektronische Geräte wie Mischpulte, Synthesizer,
Notebooks und Mikrofone. Alles ist mit Kabeln miteinander verbunden. Daneben
liegen Megafone, Mikrofone und auch Alltagsgegenstände, Mineralwasserflaschen,
Gläser und Tüten mit Knabberzeug. Nicht ohne Grund gleicht das dem
Aufbau eines physikalischen Experiments. Das Ganze ist eine elektro-akustische
Versuchsanordnung, in die die Musiker ihre Material-Pools eingeben. Mit diesen
kann dann das "Experiment" Performance durchgeführt werden.
Auch etliche kleine szenische Aktionen gehören dazu. Die Künstler steigen
auf die Tische, ein anderes Mal werden musikalische Motive von bestimmten Körperhaltungen
begleitet.
Die Frankfurter Künstler betonen, dass sie ohne Dramaturgie arbeiten. Es
wird also keine Geschichte erzählt, die von A nach B abläuft. Ebenso
wenig gibt es einen vorgegebenen Spannungsbogen mit Entwicklungen und Höhepunkten.
Dieser entsteht erst im Moment des Spielens, aus der freien Improvisation heraus.
Mit einer klassischen Dramaturgie hat das kaum noch etwas zu tun. Allerdings
haben die Künstler aus den Erfahrungen ihrer bisherigen Produktionen die
Beliebigkeit der Improvisation etwas eingeschränkt. Es hatte sich nämlich
gezeigt, dass sich nach einigen Aufführungen immer wieder dieselben Abläufe
einstellten. So wurden jetzt für das Schumann-Projekt bereits viele Passagen
festgelegt, zum Beispiel eine Stelle, bei der ein Schumann-Lied gesungen und
gesummt wird. Mit der Collage solcher Elemente entfaltet die Produktion „Komet" ein
weites Assoziationsfeld. Es ist Gegenüber für den Hörer mit seinen
eigenen Erfahrungen und Erlebnissen zum Thema Schumann.
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