JUGEND
/ 2005
Unternehmen Jugend - EMT im Kontext / NZFM
Die Frankfurter Gruppe Arbeit
Eine der populärsten Gattungen der Musik ist das Lied. Musikfragmente
aus der Antike werden als Lieder tituliert. Volksmusik lebt durch das Lied,
das zu allen Zeiten auf die Kunstmusik ausgestrahlt hat. Popmusik, ob kommerziell
oder experimentell, nutzt das Lied als formalen Standard. Einen bedeutenden
künstlerischen Höhepunkt erreicht es mit dem Klavierlied der Romantik,
in dem die äußerste Verdichtung des Musikalischen angestrebt wurde
- ein weites Feld, auf dem sich die Frankfurter Gruppe "Arbeit" bewegt.
Sie sammelt Materialien aus der Musikgeschichte des Liedes, lädt sie mit
gesellschaftlichen und persönlichen Erfahrungen auf und kleidet sie ins
Klanggewand der Gegenwart.
Die Faszination gerade am wortbehafteten Lied gründet sicher auf der recht
breiten, nicht nur mu-sikalischen Basis der Künstlergruppe. Oliver Augst
tritt als Performer, Komponist und Bühnenbildner auf, Christoph Korn
studierte Politologie, Soziologie und Philosophie, Marcel Daemgen ist am Klavier,
aber auch als Studiotechniker ausgebildet und die Schauspielerin Michaela Ehinger
konzentriert sich besonders auf Stimmarbeit. Seit vielen Jahren arbeiten diese
Künstler nicht nur individuell, sondern immer wieder in verschiedenen
Projekten zusammen; gelegentlich treten noch andere wie etwa der Wiener Musiker
Thomas Dézsy dazu. Um das Ganze organisatorisch zu bündeln, gründeten
sie 1998 eine Gruppe. Auf der Internet-Seite nennen sie sich "textxtnd",
geben sich sonst aber den zwar prosaischen, gleichwohl jedoch sehr treffenden
Namen "Arbeit".
Denn die Arbeit der Gruppe "Arbeit" endet nicht mit einem wie auch
immer festen Resultat, sondern wird ständig weitergeführt. Die Künstler
stellen sich ein Thema, mit dem sie sich über Monate und Jahre beschäftigen
und das dann in verschiedenen künstlerischen Formen Niederschläge
findet.
Beim Projekt "Heimat", war der Ausgangspunkt die Idee, Volkslieder
zu untersuchen, auszuwerten und zu bearbeiten. Die Volkslied-Arbeit entstand
aus dem ersten Projekt der Gruppe zu Eisler-Brecht-Liedern. Von da aus zogen
die Künstler die Linie zum Liedgut des Alltags, das seit dem 18. und 19.
Jahrhundert bis in die Gegenwart hinein immer noch lebt. In jedem Haushalt
steht irgendwo ein Liederbuch. Dort im privaten begannen die Künstler
ihre Recherche mit dem Wiederbeleben eigener alter Erfahrungen und Erinnerungen,
mit dem Ausweiten der Suche und schließlich mit einer fast wissenschaftlichen
Forschungsarbeit im Volksliedarchiv Freiburg. Texte, Melodien und andere musikalische
Strukturen wurden akribisch gesammelt, nicht aber systematisch, sondern dem
ganz individuellen Interesse der Künstler folgend. Ausstülpungen
des Volkslieds in die Kunstmusik wie die Ode "Freude schöner Götterfunken" wurden
einbezogen, ebenso Strukturen der Popmusik, die trotz anderem Klanggewand dem
Volkslied oft zum Verwechseln ähneln. Diese Materialien bildeten einen
Pool aus Fragmenten, die teilweise unverändert blieben, teilweise verschiedene
vor allem elektronische Manipulationen erfuhren. Dieser Pool diente der Gruppe
als Basis für die unterschiedlichen künstlerischen Emanationen des
Volksliedprojekts.
Eine davon ist die 2001 am Theaterhaus Frankfurt aufgeführte Performance "Heimat".
Wie bei allen Bühnenauftritten der Gruppe lag ihr keine Partitur und
kein dramaturgisches Konzept zugrunde. Vielmehr hatte zuvor jeder Künstler
mit dem Material gearbeitet, es collagiert oder durch kompositorische Eingriffe
zu kleineren oder größeren Stücken geformt oder es durch geräuschige
Elektronik verfremdet. Mit diesem Erfahrungsschatz ging die Gruppe in die
Aufführung und arbeitete im live-Kontext rein improvisatorisch. "Electronic
music theatre" nennt die Gruppe diese Form, bei der die bisherigen Erfahrungen
zum jeweiligen Thema aus der theoretischen Beschäftigung und aus den kompositorischen
Experimenten zusammenfließen und live zu einem nicht prädeterminierten
Stück geformt werden.
Die kompositorische Komponente des Projekt fand dann ihren Niederschlag in
einer CD-Produktion. Verschiedene Volkslieder sind dort bearbeitet, unter ihnen
Hits wie "Maikäfer flieg" und "Der Mond ist aufgegangen",
aber auch unbekanntere Titel wie "Maria durch den Dornwald ging".
Die Stücke sind bis ins kleinste ausgeklügelt, im klassischen Sinn
komponiert und können als Werke betrachtet werden, als Lieder im ganz
im Sinn der Gattung.
Darüber hinaus existiert eine Realisation des Projekts Volkslied als Internet-Hörspiel,
das im Rahmen der "intermedium 2" am ZKM Karlsruhe 2002 entstand.
Auf einer Festplatte lagerte ein Audioarchiv mit Begriffen aus Volksliedern.
Dazu entwarfen die Musiker eine Software, die diese Begriffe abruft und sie
verschiedenen Klangmanipulationen unterzieht, wie Verzerrungen und Verrauschungen
bis hin zum reinen Sound. Das Wort erscheint einmal als Bedeutungsträger,
ein anderes Mal als musikalisches Element. Zufallsparameter generieren dabei
eine vielfältige, je neue und unerwartete Kom-Position der Sprachelemente
im Fluß des potentiell unendlich währenden Klangstroms.
Solches Changieren zwischen Semantik und Musik, zwischen Assoziation und dem
sinnlichen Erfahren charakterisiert die spezielle Klangästhetik der Gruppe "Arbeit".
Ein zentrales Element ist dabei das Geräusch. Es wird durch elektronische
Verfahren erzeugt. Neben verschiedenen Collage- und Montagetechniken beherrscht
es die spezifische Klangbearbeitung der Gruppe "Arbeit". Instrumental
Gespieltes durchläuft meistens elektronische Schaltungen, ein Megaphon,
einen E-Gitarren-Verzerrer, einen Computer oder als Besonderheit der Gruppe
ein Mischpult, das die Musiker als Musikinstrument nutzen. Durch Rückkopplungsschaltungen
machen sie es zum Klangerzeuger, der eine große Vielfalt an Geräuschen,
Zischen, Knistern, Brummern und Pfeifen, generiert.
Mit einer solch geräuschbetonten Klangarbeit bei der Lied-Bearbeitung
setzen Oliver Augst, Marcel Daemgen, Michaela Ehinger und Christoph Korn Kontraste
zu den musikalischen Klischees, mit denen das Volkslied behaftet ist und die
seine Identität ausmachen. Ihre Interpretationen der Volkslieder, sei
es auf der Bühne, auf der CD oder im Hörspiel, sind scharfsinnige,
in zeitgenössische Klanggestalten gegossene Reflektionen des Themas,
die stets auch eine subtile politische Komponente enthalten.
Alle Projekte der Gruppe "Arbeit" zielen auf mehrdimensionale Realisierungen
ihrer Themen. Obwohl die Resultate bei CD und Hörspiel fix sind, bröckelt
doch der klassische Werkbegriff angesichts des Kontextes, in dem sie entstanden
sind. Auch beim Projekt "Marx", das den Volksliedbearbeitungen
folgte, ist die materiell greifbare CD "nur" ein Ausläufer
des Ganzen. In ihr kristallisieren einige mögliche Manifestationen des
Marx-Material-Pools, zu dem die DDR-Nationalhymne, die Internationale, Aufnahmen
von Propaganda-Veranstaltungen, aber auch ein Shakespeare-Gedicht gehören.
Andere Kondensate entwickeln sich dann bei den Auftritten auf der Bühne,
so daß das Projekt ständig in Bewegung, in "Arbeit" bleibt.
Es ist ein "work in progress" im besten Sinne des Wortes.
Das jüngste Unternehmen heißt "Jugend". Es thematisiert
Konnexe zwischen Romantik und Sigmund Freud und wird im März 2005 beim
Festival "Forum Neue Musik" im Deutschlandfunk Köln uraufgeführt;
der Deutschlandfunk produzierte die bisher erschienenen CDs der Gruppe zu den
Themen "Volkslied" und "Marx" und wird auch die "Jugend"-CD
herausgeben. Diesmal füllt die Gruppe ihren Material-Pool mit Kunstliedern
aus der Romantik, Schlagern von Udo Jürgens und Texten zum Unbewußten,
woraus sie ein Panorama des Begriffs Jugend als Synonym für das Unverbrauchte
entfalten möchte.
JUGEND, Volume 01: Freud, electronic music theater
Uraufführung am 6. März 2005, Forum Neue Musik Deutschlandfunk, Funkhaus
Köln
10., 11., 12. März 2005 Künstlerhaus Mousonturm Frankfurt
November 2005 Festival WienModern
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Radiossendung von Hanno Ehrler
Unternehmen Jugend - EMT im
Kontext / NZFM
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