Deutschlandfunk
Abt. Musik Red.: Frank Kämpfer
6. Woche
Sa., 8. Februar 2020
22.05 – 22.50 Uhr
Atelier neuer Musik
Neue Produktionen aus dem Deutschlandfunk Kammermusiksaal
Ruhelos in der Großstadt – Augsts und Daemgens neue Lesart der „Winterreise“
Von Klaus Gehrke
Text 1:
Er gilt als das bedeutendste Werk in Franz Schuberts Liedschaffen und als Ikone des Kunstliedes: der Zyklus „Winterreise“ auf Texte von Wilhelm Müller, den Schubert 1827 komponierte. Zahllose renommierte Interpretinnen und Interpreten hatten und haben die „Winterreise“ selbstverständlich im Repertoire. Die überaus große Beliebtheit des Zyklus zeigt sich nicht zuletzt in etlichen Einspielungen auf dem CD-Markt. Darüber hinaus entstanden gerade in den letzten Jahren mehrere Bearbeitungen; doch kaum eine setzt sich so radikal anders mit Müllers Texten und Schuberts Musik auseinander wie die Lesart der Komponisten und Interpreten Oliver Augst und Marcel Daemgen. Ihre Version der „Winterreise“, die in einer Koproduktion von Deutschlandfunk und dem Label HOMEfamily im Spezialstudio des Deutschlandfunks entstand, wird demnächst als CD erscheinen. Ausschnitte aus dieser Produktion hören Sie in der heutigen Sendung; am Mikrofon ist Klaus Gehrke.
Musik 1: Augst/Daemgen: Einsamkeit 1‘55
Text 2:
Eigenwillig, unkonventionell und verstörend: Das war das Lied „Einsamkeit“ aus Schuberts „Winterreise“ in der Lesart von Oliver Augst und Marcel Daemgen. Die beiden Komponisten, Interpreten und Produzenten arbeiten seit vielen Jahren an Projekten mit dem Ziel, durch ungewöhnliche Interpretationen neue Sichtweisen zu vermitteln. Dazu gehört auch die Beschäftigung mit der alt ehrwürdigen Gattung Kunstlied, sagt Marcel Daemgen:
O-Ton, Daemgen:
Das hatten wir schon mal vor 12, 13 Jahren mit der CD „Jugend“, da haben wir so aus dem Kanon Robert Schumann, Richard Wagner, Gustav Mahler, Hugo Wolf, auch Schubert, der „Erlkönig“ war dabei, Kunstlieder bearbeitet. Und diesmal war es die „Winterreise“, auch direkt verbunden mit einer Ästhetik, die wir dann auch angestrebt haben, eine sehr trockene elektronische Ästhetik, die weggeht, natürlich ganz weit weggeht von dem, was man allgemein kennt, wie die „Winterreise“ interpretiert wird.
Text 3:
Im Vordergrund der Bearbeitungen von Augst und Daemgen steht nicht der glänzend polierte Schönklang Jahrhunderte alter traditioneller musikalischer Überlieferung, sondern dessen strikte Durchbrechung, um einen neuen unverstellten Zugang auf die Aktualität alter Texte und den Kern der Musik zu bekommen. Oliver Augst, der in der Produktion sämtliche Lieder singt und die Hälfte von ihnen auch bearbeitet hat, kennt selbstverständlich die klassischen Interpretationen der „Winterreise“. Genau diese mussten für das Projekt komplett ausgeblendet werden:
O-Ton, Augst:
Insofern war das mir selbst auferlegte Verbot eigentlich dann der Anfang meiner eigentlichen Arbeit, dass ich versucht habe, mir diese Stücke zu eigen zu machen und zwar soweit anzueignen, dass ich das Gefühl habe, sie sind eigentlich sogar meine Lieder geworden. Und diesen Prozess, den muss ein Lied irgendwie mit mir durchmachen, damit ich zu so einem Ergebnis kommen kann. Und deswegen war das plötzlich, also sagen wir mal, dieser klassische Überbau, der uns schon so eingeimpft ist, wie man das so zu singen hat, den musste ich einfach los werden, den musste ich sprengen und das ist dann auch eine Detailarbeit gewesen im Lied selbst, und das sind Prozesse gewesen, immer wieder mit Tipp-ex über die Noten drüber, kleine Vorschläge, kleine Verzierungen wegzunehmen, ich wollte die gar nicht mehr sehen, ich habe diese Noten sozusagen für mich auch grafisch reduziert auf so ein Gerüst. Und dann dachte ich mir, so, und jetzt kannst du eigentlich erst selbst damit beginnen.
Text 4:
Aus der „Winterreise“ von Oliver Augst und Marcel Daemgen erklingen nun die ersten drei Titel „Gute Nacht“, „Gefrorne Tränen“ und „Erstarrung“.
Musik 2: Augst/Daemgen: Gute Nacht/Gefrorne Tränen/Erstarrung 11‘23
Text 5:
Augsts und Daemgens Lesart der „Winterreise“, aus der gerade die ersten drei Lieder erklangen, besteht aus 18 Stücken; der originale Liedzyklus von Schubert beinhaltet dagegen 24 Nummern. Darüber hinaus gibt es auch hinsichtlich der Reihenfolge bei Augst und Daemgen einige Umstellungen. Dazu Marcel Daemgen:
O-Ton, Daemgen:
Dass es sechs Lieder weniger sind, liegt schon am Sänger, der sich ja die Lieder aussucht, und er muss sie ja auch singen, also er hat schon eine, sagen wir mal, nähere Beziehung zum einzelnen Lied als ich, der das nicht singt, sondern der sich das Gerüst vornimmt und es bearbeitet. So kam die Auswahl erst mal zustande, weil Oliver diese sechs Lieder nicht singen wollte oder entschieden hat, sie nicht zu singen, darüber haben wir auch nicht so diskutiert, das war gesetzt, und die Reihenfolge hat sich erst ganz am Ende geändert, relativ jetzt erst vor einigen Monaten, was daran lag, dass die Auswahl, welche Lieder bearbeitet wurden von wem, weil wir haben uns das so ein bisschen aufgeteilt, die eine Hälfte hat er, die andere habe ich, und ich bin da so ein bisschen nach vorne geprescht und hab mir die Stücke ausgesucht, wo ich den besten Zugang zu hatte, und die lagen alle im ersten Teil von dem Programm, also in ersten acht, neun Stücken wären fünf oder sechs von mir gewesen. Und meine Herangehensweise unterscheidet sich, wenn man die CD hört, wird man es hören, etwas von der Herangehensweise vom Oliver, das wollten wir so ein bisschen durchbrechen, weil wir diese Herangehensweise ja nicht trennen, sondern wir sehen in diesem Widerspruch, in diesem vermeintlichen, meine Stücke sind oft strukturierter, rhythmischer, und seine sind offener, freier, das sehen wir ja durchaus als gewollt an, wir wollen diese Brechung, wir wollen diese Polarisierung, die vielleicht dadurch entsteht, die interessiert uns ja, das finden wir aufregend.
Text 6:
In Schuberts Original gehört das Lied „Rückblick“ zu den ersten 12 Liedern, die im Frühjahr 1827 entstanden; „Die Krähe“ und „Letzte Hoffnung“ kamen mit dem zweiten Teil im Herbst hinzu. Bei Oliver Augst und Marcel Daemgen folgen sie direkt aufeinander – und vermitteln deutlich die mitunter sehr scharfen Kontraste ihrer Lesart.
Musik 3: Augst/Daemgen: Rückblick/Die Krähe/Letzte Hoffnung 8‘31
Text 7:
Während andere Bearbeiter der vergangenen Jahrzehnte, unter anderem auch Hans Zender, die originale harmonische Struktur vor allem der Klavierbegleitung unangetastet ließen und höchstens etwas erweiterten, bleibt bei Augst und Daemgen nur die Melodie der Singstimme weitgehend unverändert. Hier fallen lediglich verschiedene Wiederholungen weg. Der instrumentale Part dagegen reicht von harmonischen Anklängen an die ursprüngliche Begleitung über harte E-Gitarren-Sounds bis zu Techno-Beats und elektronischen Samplings, in denen ganz verschiedene Klänge, Geräusche und Rhythmen verarbeitet werden. Diese schrankenlose musikalische Vielfalt empfindet Marcel Daemgen als selbstverständlich:
O-Ton, Daemgen:
Also mich wundert es eher, dass man das nicht viel häufiger macht, weil, ich meine, ich lebe heute und ich bin mit der Musikentwicklung groß geworden, die neben der klassischen Musik, ich hab eine klassische Musikausbildung natürlich, bin ich auch mit dieser Musik groß geworden, aber ich bin auch mit den Beatles, mit dem Hard Rock, Metal, mit Pop, Madonna und sowas auch groß geworden, auch mit der Techno-Musik und so weiter, das gehört auch irgendwie zu meiner musikalischen Sozialisation dazu, dessen habe ich mich nicht verschlossen, und warum soll ich, wenn mir die „Winterreise“ als Komposition sehr gut gefällt, ich mag die Texte, die Texte sind geradezu eine Entdeckung noch mal gewesen sich jetzt so intensiv mit denen zu beschäftigen, ich finde die Musik sehr ansprechend, das einzige, was mich stört oder gestört hat in der Vergangenheit, ist die Interpretation, die ich nur kenne von den Sachen, ich will das ganz subjektiv nur sagen, das hat mich daran gehindert, die „Winterreise“ durchzuhören, weil ich mir dachte, das reicht jetzt. Der Antrieb ist, ich will diese tollen Texte, diese starke Musik, die will ich mir anhören können, also muss ich aktiv werden und kann die so bearbeiten, so kann man die heutzutage spielen und auch sich anhören.
Text 8:
Auch wenn Sänger Oliver Augst sich weitgehend an den originalen Notentext der Singstimme hält, leuchtet er ihn mit seiner ausdrucksstarken Stimme ganz anders aus als klassische Liedinterpreten. Für ihn haben die Gedichte Wilhelm Müllers, die 1823 entstanden, nichts von ihrer bis heute gültigen Aussagekraft verloren. Allerdings seien in der Rezeptionsgeschichte der „Winterreise“ die Erschütterungen des Dichters, die wiederum den Komponisten zu dem Epoche machenden Werk inspirierten, allzu sehr zugunsten eines wohligen Konzerterlebnisses mit gefeierten Spitzenstars überlagert worden:
O-Ton, Augst:
Und ich behaupte mal, in den meisten Fällen wird man das Lied gar nicht mehr wirklich hören und man wird auch diesem Text nicht mehr zuhören. Und mein Ansatz kann da nur sein, ich muss es so machen, dass das wieder möglich ist, dass man geradezu dazu gezwungen wird, das Lied wieder neu anhören zu müssen, um gegebenenfalls das auch ganz anders zu empfinden, und das möchte ich eigentlich nicht so stark vorgeben, wie man das zu empfinden hat und doch ist man natürlich sozusagen mit Haut und Haaren dadrin verwoben und kann auch nicht anders, als seinen eigenen Anteil reinzugeben, aber auf jeden Fall, eben unter diesem Aspekt des es neu Erklingenlassens im Sinne von dass es neu rezipierbar ist.
Musik 4: Augst/Daemgen: Der Wegweiser/Das Wirtshaus/Irrlicht 8‘17
Text 9:
Das waren „Der Wegweiser“, „Das Wirtshaus“ und „Irrlicht“ aus der „Winterreise“ in der Bearbeitung von Oliver Augst und Marcel Daemgen. Zusätzlich wirkte bei der Produktion noch der Gitarrist Alexandre Bellenger mit.
1824 wurde Wilhelm Müllers Gedichtzyklus mit dem Untertitel „Aus den hinterlassenen Papieren eines reisenden Waldhornisten“ veröffentlicht. Ob nun mit oder ohne Horn: Bis heute gilt der Protagonist in der „Winterreise“ als der eher romantisch gezeichnete Liebeskranke, der sich in seinen Hoffnungen von der Welt getäuscht sieht und ganz im Sinne der damaligen Zeit an seinem Herzschmerz leidet. Marcel Daemgen dagegen interpretiert die Geschichte eher aus tagesaktueller Sicht:
O-Ton, Daemgen:
Also einer der Hauptgründe, was die Motivation zu diesem Liederzyklus betrifft, war, 2015/16 kamen wir auf die Idee, der große Flüchtlingsstrom, der Europa erreicht hat, und für mich sprang die Parallele der „Winterreise“ sofort ins Auge, dass hier ein Flüchtling damals durch Deutschland unterwegs war durch die verschiedenen deutschen Länder und wahrscheinlich sogar durch den Tod bedroht war, das konnte ich so reininterpretieren, und von Ort zu Ort musste, Unterschlupf suchen musste, auf Willkommen angewiesen war, auf Gastfreundschaft angewiesen war, manchmal waren kläffende Hunde, die ihn vertrieben haben oder auch unfreundliche Menschen, also die Parallele war augenscheinlich, die Texte empfinde ich als sehr zeitgemäß, sie eignen sich für aktuelle Lieder absolut.
Text 10:
Musikalisch haben Augst und Daemgen die romantische „Winterreise“, bei der einem manchmal Naturbilder von Caspar David Friedrich in den Sinn kommen, eher in die jetzigen Metropolen mit kalten Straßenschluchten und anonymen Menschenmassen geholt. Und der Herzschmerz ist blanken Existenzängsten gewichen. Bei ihrer Bearbeitung von Schuberts wohl berühmtesten Liedzyklus ging es den beiden Künstlern jedoch nicht nur um eine Aktualisierung in zeitgemäßer Klangsprache; Marcel Daemgen sieht darin auch eine logische Weiterentwicklung der alten Gattung Kunstlied:
O-Ton, Daemgen:
Ich möchte es so bearbeiten, dass ich es selbst hören möchte, das ist die erste Motivation. Und wenn ich jetzt die Verbindung zu Kurt Weill oder Hanns Eisler zum Beispiel nehme, die haben das auch gemacht mit Berthold Brecht, dass sie auch einen neuen Ansatz, eine neue Form des Kunstliedes gebracht haben, eine Erneuerung, und das ist, finde ich, ganz selbstverständlich, das müsste man jetzt gar nicht so hoch hängen, sondern ich finde, das müsste andauernd passieren. Also ich finde es eher aus meiner Sicht ein wenig seltsam, dass eine bestimmte Musikart seit über 200 Jahren ununterbrochen immer wieder von Neuem wiederholt wird, und nur in kleinsten Nuancen wird unterschieden, ah, der singt so und der singt so, und man hört aber eigentlich kaum einen Unterschied außer, dass Sänger halt unterschiedlich klingen. Also dass eigentlich in jeder Generation es neue Musikinstrumente gibt oder auch neue gesellschaftliche Situationen, neue musikalische Entwicklungen, das ist alles eigentlich selbstverständlich, und dass jede Musikgeneration dann auch wieder eine neue Art von Kunstlied macht, auch mit den alten Kompositionen, entweder komponieren sie sie neu wie Hanns Eisler oder Kurt Weill, oder sie nehmen sich, wie wir das jetzt gemacht haben, die alten Lieder vor, aber interpretieren sie so, dass sie heute wieder gehört werden können, das finde ich ist ein ganz selbstverständlicher Vorgang.
Musik 5: Augst/Daemgen: Der Leiermann 1‘37
Text 11:
So klingt das letzte Lied der „Winterreise“, „Der Leiermann,“ in der Lesart von Oliver Augst und Marcel Daemgen. Ihre in einer Koproduktion von Deutschlandfunk und dem Label HOMEfamily im Deutschlandfunk Spezialstudio aufgenommene Version wird demnächst auf CD erscheinen. Damit ging die heutige Ausgabe des „Ateliers neuer Musik“ zu Ende; am Mikrofon verabschiedet sich Klaus Gehrke. Diese Sendung können Sie in der Dlf Audiothek-App hören – Einzelheiten dazu finden Sie unter deutschlandfunk.de/dlfaudiothek.
Booklettext von Frank Kämpfer / DLF
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