VON JEDEM EINS / 2021
Frankfurter Rundschau, 20.12.2021
Es schmirgelt, orgelt, klirrt: Augst, Daemgen, Bott (v.l.). © Sandra Danicke
Performance
Dinge und wie sie klingen: Blubbern und Fiepen
Von Stefan Michalzik
Oliver Augst, Marcel Daemgen und Karsten Bott klangperformen bei basis Frankfurt
Ein White Cube, in der Mitte, auf einer raumgreifenden gezimmerten Holzkonstruktion, eine kaum überschaubare Menge von Gegenständen. Vieles sieht nach Sperrmüll aus, ein CD-Regal, Relikt einer Ära, die gerade zuendegeht, eine Schreibmaschine und weiteres mechanisches Gerät, ein Kinderfahrrad, eine Stehlampe im modernistischen Stil der siebziger Jahre. Es findet sich aber auch viel Erlesenes darunter, eine schöne alte Kaffeekanne zum Beispiel. Von der wuseligen Vielfalt geht eine poetische Faszination des Vergangenen aus.
Unter dem Titel „Von jedem eins“ hat der in Frankfurt lebende Künstler Karsten Bott in den letzten gut zwanzig Jahren mehrfach Auswahlen aus seinem Lebensprojekt, einem „Archiv der Gegenwarts-Geschichte“ ausgestellt. Nun hat eine seiner Kompositionen aus Objekten der Dingwelt von der Mitte des 20. Jahrhunderts bis zur Gegenwart das Setting zu einer Musikperformance unter dem gleichen Titel im Atelier- und Ausstellungshaus basis am Rande des Frankfurter Bahnhofsviertels gebildet, mit Oliver Augst (Stimme) und Marcel Daemgen (analoger Synthesizer und Sampling) vom Kollektiv textXTND sowie Bott selbst mit seiner Stimme und vor allem einer Produktion von Geräuschen auf den Objekten, die den konventionellen Begriff von „Perkussion“ sprengt. „Haus, Modelle, Eisenbahnhäuschen“, lauten die ersten Worte der sonor baritonalen Sprechstimme von Augst: Inventarlisten zum Archiv von Karsten Bott bilden einen fundamentalen Teil der Collage aus Texten und Klang, hinzu kommt aus dem Off eine Frauenstimme mit auf die reine Sachlichkeit reduzierten Protokollen einiger Tagesabläufe eines Individuums im Jahr 1992.
Dann wird es laut
Wer das weitverzweigte Werk von textXTND seit längerem verfolgt, dem sind bestimmte wiederkehrende Mittel vertraut. Augsts Stimme greift an einzelnen Stellen in eine Andeutung von Gesang aus, an anderen Stellen spricht er in das Mikrofon eines Megaphons und die Stimme klingt blechern. Geräuschhaft die elektronischen Klänge von Marcel Daemgen, vom Wummern und Blubbern über das Tackern bis zum Fiepen und Sirren; an einigen Stellen wird es noisig laut.
So sehr das den formalen Mitteln nach wohlbekannt ist, gelingt es Augst und Daemgen, diesmal eben im Verbund mit Bott, ihrem Fundus immer wieder luzide Arbeiten hervorzubringen. Triftig im vorliegenden Fall die Spannung zwischen der äußeren Nüchternheit einer Bestandsaufnahme und dem emotionalen Gehalt des Vergangenen, erhaben über eine nostalgische Verkitschung. Im Anfang, so der britische Archäologe Ian Hodder, auf den Petra Beck in einem theoriereflektierenden Essay im Programmheft Bezug nimmt, war nicht das Wort, sondern das Ding; die zunehmende Verschränkung von Mensch und Ding, so der Befund, habe zu wesentlichen Schüben der menschlichen Evolution geführt.
FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG, 17.12.2021
Ein Denkmal für die alte Welt
Frankfurt. Wie klingen Nüsse, Nägel, Samples und Gesang? Mit ihrer Performance „Von Jedem Eins“ erkunden Karsten Bott, Oliver Augst und Marcel Daemgen im Atelierhaus Basis die Musik der Dinge.
Von Christoph Schütte
Wie klingen eigentlich Nassrasierer? Einmachgläser, Lockenwickler, eine Dose Wäscheklammern, eine Kaffeemühle oder ein Eisfähnchen im Wind? Nun, falsche Frage, müssen wir bei unserem Probenbesuch im Atelierhaus Basis rasch erkennen. Geht es doch Oliver Augst und Marcel Daemgen, die als textXTND seit bald 25 Jahren in unterschiedlichen Konstellationen gemeinsame performative, installative und musikalische Sache machen, mit „Von Jedem Eins“ weniger darum, Karsten Botts Archiv für Gegenwartsgeschichte zu bespielen und in Töne umzusetzen. Was in der Tat ein verwegenes Unterfangen vorstellte.
Immerhin umfasst Botts aberwitzige, seit Studienzeiten an der Städelschule wachsende grandiose Sammlung rund 500 000 Objekte und finden sich von Kittelschürzen über Spülschwämme und Teppichklopfer, Backformen, Kaffeewärmer oder Kartoffelschälmaschinen bis zu Zahnpastatuben, Rasierpinseln und ausgelutschten Kaugummis alle möglichen und unmöglichen Dinge in Botts Hanauer Depot, die dem modernen Menschen nicht weniger als seine Welt bedeuten. „Von Jedem Eins“ ist zwar die Klanginstallation nach Botts Künstlerbuch überschrieben, die am Freitag bei Basis Premiere hat. Nicht um Vollständigkeit aber geht es, sondern ums Prinzip.
„Eigentlich ist es die Idee des Readymades“, sagt Augst. Des Verschiebens also von Dingen in andere Kontexte – und mithin um Wahrnehmung. Auch um das Befragen der jeweiligen Parameter und das Zusammenführen unterschiedlicher Disziplinen, wie es Augst und Daemgen schon in der Vergangenheit mit Musikern wie Rüdiger Carl und Schorsch Kamerun, mit Künstlern wie Raymond Pettibon oder ihren Hörstücken zu Franz West und Martin Kippenberger seit jeher praktizieren. Die Welt Karsten Botts performativ mit der eigenen kurzzuschließen hat denn auch einen ganz besonderen Reiz. Nicht nur weil Bott mit seiner vergleichsweise winzigen, rund 100 Objekte vorstellenden Auswahl aus seinem Archiv für die Ausstattung zuständig ist.
Und mithin für die Bühne, die das Publikum während der Performance selbst umrunden und erkunden kann. Oder weil der Frankfurter Künstler aus naheliegenden Gründen vor allem solche Objekte für „Von Jedem Eins“ ausgewählt hat, „die Töne und Geräusche machen“. Einen Wecker etwa, eine Schachtel Nägel oder eine Batterie Lichtschalter, Luftballons, Kuhglocken und eine Kinder-Zither; ein Handrührgerät und eine Schüssel Nüsse, ein winziges Klavier und eine Menge mehr, was er nun als Teil des Trios Augst/Bott/Daemgen buchstäblich bespielt. „Wir sehen uns auch ein bisschen als Sammler“, sagt der Musiker und Komponist Marcel Daemgen. Freilich weniger von Dingen und Objekten, die es zu ordnen, zu kategorisieren und zu archivieren gälte, wie es Botts „Work in progress“ vorsieht, sondern von Material.
Von Klängen, Tönen und Geräuschen, von Text- und Lied- und Lautmaterial, wie es so unterschiedlichen Produktionen wie „Marx“ oder „Volksliedmaschine“, „Kurt Weill jagt Fantômas“, „Eurovision“ oder der in Zusammenarbeit mit Michael Riedel entstandenen „Selbstbeschreibung“ zugrunde liegt. Ein über die Jahre gewachsenes „Deutschland-Archiv“, wie Augst und Daemgen ihre Materialsammlung nennen, der sie in Hörspielen, Konzerten und Musiktheater immer neue, immer andere und immer wieder überraschende performative Form geben. Geradeso wie Bott die Seine, wenn er sie in seinen Ausstellungen mal als Hosentaschensammlung, mal als „Sonderdinge“ in einer kleinen Auswahl in Schaukästen, Regalen und Registern oder in begehbaren, an einen archäologischen Garten erinnernden Installationen präsentiert.
Dass die Künstler als Protagonisten unterschiedlicher Disziplinen sich „Von Jedem Eins“ aus verschiedenen Perspektiven nähern, dass, mehr noch, die Archive je anderen Zusammenhängen gewidmet sind und sich hinsichtlich der Materialität, der Speichermedien und des künstlerischen Interesses gründlich unterscheiden, macht die Zusammenarbeit auf der Bühne indes nicht immer einfach. Immerhin spielen Augst und Daemgen seit Jahrzehnten schon zusammen, während Bott nicht mal ein Instrument beherrscht. Am Ende aber macht das für das eigens für die Installation entstandene Trio Augst/Bott/Daemgen den Reiz gerade aus. Im Grunde, so Augst, lasse sich mit der live aufgeführten und sich mit jedem Set anders darstellenden Performance exemplarisch die Geschichte improvisierter Musik nachvollziehen.
Und tatsächlich fügen sich die verschiedenen, aus Botts Sammlung und aus Zufallsfunden, Tagebüchern und Archiven, aus Eigenkompositionen, eingesprochenen und vorgefundenen Notizen generierten Stimmen mit Daemgens Samples, Augsts Liedern, Listen und Gesängen und Botts Nüssen, Nägeln, Türenschlagen, heulenden Staubsaugern und dem schrillen Weckerklingeln zu immer neuen Klang-Begegnungen im Raum. Ein Trio also, in dem jede Stimme mal zurücktritt, mal ein Solo hat, auf ein Thema reagiert, frei zu improvisieren anfängt und „jeder ein paar Stücke hat, die er spielt“, wie Bott sagt.
„Jazz, nichts anderes“, wie Augst konkretisiert. Und geradeso wie dort gerät „Von Jedem Eins“ naturgemäß mit jeder Aufführung ein wenig anders, kommt ein Einsatz vielleicht leicht verzögert, spielt einer einen anderen Ton, eine andere Phrase oder gar ein anderes Instrument. Nie mehr jedenfalls so wie eben jetzt, bei unserem Besuch drei Tage vor der Premiere. Kann doch Bott seine Spiellust bei den Proben kaum zügeln, Augst sich mit seiner kunstvoll gesungenen „Liste notwendiger Dinge“ trotz Megafon nur mühevoll Gehör verschaffen, während Daemgens Einspieler und elektronische Fragmente offenkundig eine wieder andere, beide Stimmen reflektierende Geschichte zu erzählen haben.
kulturfreak.de 17.11.2021
Musikperformance VON JEDEM EINS vom 17.-19. Dezember 2021 in Frankfurt/M
Im Titel des Projekts klingt eine quasi biblische Frage an: Was gilt es zu bewahren? Warum ist gerade angesichts einer Krise die Beschäftigung mit den Dingen so wichtig? Wie können wir die Aufmerksamkeit den Dingen gegenüber neu schärfen, den subjektiv-individuellen Blick gegen die groben Strategien der globalisierten Weltordnung behaupten? Das Private versus Welt …
Das Gewahrwerden der eigenen Ding-Umwelt, die Vielstimmigkeit der Objekte, ihre vielfältigen Verbindungen zur Zeit bedürfen das Gewinnen einer neuen Übersicht. Von jedem eins ist die Übersetzung dieser Perspektive der Übersicht und der Gleichzeitigkeit der Dinge in ein klanglich-performatives Format.
Neben Oliver Augst und Marcel Daemgen ist Karsten Bott seit Jahrzehnten eine präsente Figur in Frankfurts Kulturleben, so z.B. durch eine Dauerinstallation im Historischen Museum Frankfurt und eine Ausstellung in der Schirn Kunsthalle. Seine Arbeiten wurden ausserdem im Museum Morsbroich Leverkusen oder in der Kunsthalle Kiel sowie im MoMA PS1 New York gezeigt.
Seit 1988 betreibt Bott das sogenannte „Archiv für Gegenwarts-Geschichte“. Dort sammelt er Dinge aus unserem täglichen Leben und katalogisiert sie. Die Gegenstände sind für ihn Geschichtsdokumente der Menschheit; er versucht eine Bestandsaufnahme. Im Unterschied zu einem Museum, behandelt er alle Dinge gleich. Derzeit umfasst das Archiv etwa eine halbe Million Objekte.
Karsten Botts groß angelegtes Sammelprojekt birgt das Utopische, und es zeugt von obsessiver Energie. Es ist so nah am Leben, dass ein Ausweichen kaum möglich ist.
Es macht sichtbar, was jetzt auch ein winziges Ding – ein Virus – schafft: Das Verhältnis zu den Dingen definiert das Verhältnis zur Welt. Eine Welt, in der das Nahe und das Ferne, das Erreichbare und das Unerreichbare, das Notwendige und das Entbehrliche neu definiert sind. Im Außen verändert das Virus die gesellschaftliche Ordnung, drinnen entsteht eine neue Innerlichkeit zwischen Beengtheit und Freiheit. Virtualität vermittelt zwischen beiden Sphären, schafft und ersetzt Verbindung. Die einzig zugängliche Dingwelt war, neben der Warenwelt des Supermarkts, für die Wochen des Lockdowns das Zuhause. Durch die Abgeschnittenheit vom Außen entstand eine historisch einmalige Perspektive auf die Welt der Dinge. Wir saßen wie Karsten Bott auf den Stegen. Die Verbannung durch das Virus in das eigene Heim schärfte den Blick auf die Dinge und verursachte ein Bewusstwerden der eigenen Dingumwelt. Bei vielen war die erste Reaktion auf eine dystopisch scheinende Welt das Schaffen von Ordnung. Die gegenpoligen Dreiklänge Sammeln/Archivieren/Erinnern und Sortieren/Entsorgen/Loslassen wurden geläufige Praktik. Dabei entstanden täglich neue Nachbarschaften zwischen den Dingen, neue Verbindungsfäden, Ensembles und neue Kategorien: Erinnerungsstück, Müll, Alltagsgegenstand. Dinge gerieten in Bewegung, wanderten beispielsweise in tausenden Kisten auf die Straßen in den öffentlichen Raum.
„Die Weltdinge haben die Aufgabe, menschliches Leben zu stabilisieren und ihre >Objektivität< liegt darin, dass sie der reißenden Veränderung des natürlichen Lebens (..) eine menschliche Selbigkeit darbieten, eine Identität, die sich daraus herleitet, dass der gleiche Stuhl und der gleiche Tisch den jeden Tag veränderten Menschen mit gleichbleibender Vertrautheit entgegenstehen.“
Hannah Arendt
Heimatmuseum trifft ARCHIV DEUTSCHLAND
Bott nennt sein Museum der Dinge ein „Heimatmuseum“. Denn was waren Zahnbürsten, Lockenwickler, Konservendosen anderes als die Ausstaffierung unseres Heims, unserer näheren Heimat? So gesehen ist der Supermarkt die Herzkammer dieser Heimat.
An verschiedenen Punkten trifft das Interesse Karsten Botts auf das der Künstlergruppe textXTND, die nach ähnlichen Prinzipien seit Jahren ihr Projekt ARCHIV DEUTSCHLAND verfolgt.
Gemeinsam wollen Bott und textXTND nun eine neue Darstellungsform der Ding- Sammlung entwickeln, auch in übergreifenden Medien und Formen. In einem segmentarischen Umgang sollen die Dinge durch den Zugriff der verschiedenen Künstler bearbeitet und in ein anderes Medium, das der musikalischen Performance, übertragen werden.
VON JEDEM EINS ist eine textXTND Produktion, gefördert durch das Hessische Ministerium für Wissenschaft und Kunst, das Kulturamt der Stadt Frankfurt (im Rahmen einer Mehrjahresförderung), den Musikfonds e.V., den Fonds Darstellende Künste aus Mitteln der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, die Stadt Offenbach durch ein Stipendium für Solo-Selbstständige in Kunst und Kultur, in Kooperation mit basis e.V.
„Ein Mensch ist reich im Verhältnis zur Zahl der Dinge, auf die er verzichten kann.“ Henry David Thoreau
https://kulturfreak.de/musikperformance-von-jedem-eins-vom-17-19-dezember-2021-in-frankfurt-m
FAUSTKULTUR, 03.11.2021
https://faustkultur.de/kulturtipps-kunst/von-jedem-eins/
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Text von Petra Beck
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