VON JEDEM EINS / 2021
Im Titel des Projekts klingt eine quasi biblische Frage an: Was gilt es zu bewahren? Warum ist gerade angesichts einer Krise die Beschäftigung mit den Dingen so wichtig? Wie können wir die Aufmerksamkeit den Dingen gegenüber neu schärfen, den subjektiv-individuellen Blick gegen die groben Strategien der globalisierten Weltordnung behaupten? Das Private versus Welt ...
Das Gewahrwerden der eigenen Ding-Umwelt, die Vielstimmigkeit der Objekte, ihre vielfältigen Verbindungen zurzeit bedürfen das Gewinnen einer neuen Übersicht. Von jedem eins ist die Übersetzung dieser Perspektive der Übersicht und der Gleichzeitigkeit der Dinge in ein klanglich-performatives Format.
Neben Oliver Augst und Marcel Daemgen ist Karsten Bott seit Jahrzehnten eine präsente Figur in Frankfurts Kulturleben, so z. B. durch eine Dauerinstallation im historischen Museum Frankfurt und eine Ausstellung in der Schirn Kunsthalle. Seine Arbeiten wurden außerdem im Museum Morsbroich Leverkusen oder in der Kunsthalle Kiel sowie im MoMA PS1 New York gezeigt.
Seit 1988 betreibt Bott das sogenannte „Archiv für Gegenwartsgeschichte“. Dort sammelt er Dinge aus unserem täglichen Leben und katalogisiert sie. Die Gegenstände sind für ihn Geschichtsdokumente der Menschheit; er versucht eine Bestandsaufnahme. Im Unterschied zu einem Museum behandelt er alle Dinge gleich. Derzeit umfasst das Archiv etwa eine halbe Million Objekte.
Karsten Botts groß angelegtes Sammelprojekt birgt das Utopische, und es zeugt von obsessiver Energie. Es ist so nah am Leben, dass ein Ausweichen kaum möglich ist.
Es macht sichtbar, was jetzt auch ein winziges Ding - ein Virus – schafft: Das Verhältnis zu den Dingen definiert das Verhältnis zur Welt. Eine Welt, in der das Nahe und das Ferne, das Erreichbare und das Unerreichbare, das Notwendige und das Entbehrliche neu definiert sind. Im Außen verändert das Virus die gesellschaftliche Ordnung, drinnen entsteht eine neue Innerlichkeit zwischen Beengtheit und Freiheit. Virtualität vermittelt zwischen beiden Sphären, schafft und ersetzt Verbindung. Die einzig zugängliche Dingwelt war neben der Warenwelt des Supermarkts für die Wochen des Lockdowns das Zuhause. Durch die Abgeschnittenheit vom Außen entstand eine historisch einmalige Perspektive auf die Welt der Dinge. Wir saßen wie Karsten Bott auf den Stegen.
Die Verbannung durch das Virus in das eigene Heim schärfte den Blick auf die Dinge und verursachte ein Bewusstwerden der eigenen Dingumwelt. Bei vielen war die erste Reaktion auf eine dystopisch scheinende Welt das Schaffen von Ordnung. Die gegenpoligen Dreiklänge, Sammeln/Archivieren/Erinnern und Sortieren/Entsorgen/Loslassen wurden geläufige Praktik. Dabei entstanden täglich neue Nachbarschaften zwischen den Dingen, neue Verbindungsfäden, Ensembles und neue Kategorien: Erinnerungsstück, Müll, Alltagsgegenstand. Dinge gerieten in Bewegung, wanderten beispielsweise in Tausenden Kisten auf die Straßen in den öffentlichen Raum.
Heimatmuseum trifft ARCHIV DEUTSCHLAND
Bott nennt sein Museum der Dinge ein „Heimatmuseum“. Denn was waren Zahnbürsten, Lockenwickler, Konservendosen anderes als die Ausstaffierung unseres Heims, unserer näheren Heimat? So gesehen ist der Supermarkt die Herzkammer dieser Heimat.
An verschiedenen Punkten trifft das Interesse Karsten Botts auf das der Künstlergruppe textXTND, die nach ähnlichen Prinzipien seit Jahren ihr Projekt ARCHIV DEUTSCHLAND verfolgt.
Gemeinsam wollen Bott und textXTND nun eine neue Darstellungsform der Dingsammlung entwickeln, auch in übergreifenden Medien und Formen. In einem segmentarischen Umgang sollen die Dinge durch den Zugriff der verschiedenen Künstler bearbeitet und in ein anderes Medium, das der musikalischen Performance übertragen werden.
VON JEDEM EINS ist eine textXTND Produktion, gefördert durch das Hessische Ministerium für Wissenschaft und Kunst, das Kulturamt der Stadt Frankfurt (im Rahmen einer Mehrjahresförderung), den Musikfonds e.V., den Fonds Darstellende Künste aus Mitteln der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, die Stadt Offenbach durch ein Stipendium für Solo-Selbstständige in Kunst und Kultur in Kooperation mit basis e.V.
mehr
Presse
Video
Text von Petra Beck
Foto