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Fnp 24.02.2017
Fassenachter sind auch nur sehnsüchtige Sinnsucher
Von DETLEF KINSLER

Ein Abend mit Liedern von Ernst Neger? Das klingt wie ein Anschlag auf die Geschmacksnerven. Im Frankfurter Mousonturm zeigt der "Ernst-Neger-Komplex": Das Leben geht danach weiter.

Selbst Rockmusiker Frank Zappa liebte den "Narrhallamarsch".

Als der Frankfurter Sänger, Komponist und Produzent Oliver Augst im letzten Februar mit dem "Ernst-Neger-Komplex" eine ernsthafte Befassung mit der Mainzer Fassenacht ankündigte, hielten das viele für einen schlechten Scherz. Schließlich kannte man Augst, Absolvent der Hochschule für Gestaltung in Offenbach, als Kurator anspruchsvoller Musikreihen und Projekte im Städel oder Weltkulturen-Museum. Und plötzlich das "Humba Humba Täterä" des singenden Dachdeckermeisters Ernst Neger (1909–1989), einst närrische Kultfigur aus Mainz – wie das? An diesem Montag kommt der "Komplex" zurück.
Augst (54) versteht die Beschäftigung mit Ernst Neger, dessen Lieder ja so ziemlich jeder kennt und mitsingen kann, die also im besten und schlimmsten Sinne volkstümlich sind, als Teil seines Langzeitprojekts "Archiv Deutschland": "In diesem Fall ist es ein spezieller Blick auf Nachkriegsdeutschland, in das ich hineingeboren wurde und das einem in den Fernsehaufnahmen der Mainzer Fastnacht irgendwie peinlich und sonderbar fremd vorkommt", erklärt Augst. "Ernst Neger ist etwas wie der kleinste gemeinsame Nenner des sehnsüchtigen Sinnsuchers", weiß der Sänger: "eigentlich der kompletten Skala aller Ab- und Beweggründe des Daseins".
Wie Straßenköter
Deshalb liegt es dem seit 2015 in Paris lebenden Konzeptkünstler fern, das Mainzer Original als Mitklatsch- und Gute-Laune-Terroristen zu diskreditieren. "Bei Neger findet man wunderschöne, fast schüchterne musikalische Momente", hat Augst erkannt. Für seine Performance suchte sich der Mann, der schon die Chansons des Kabarettisten Matthias Beltz elektronisch "remixte", illustre Mitstreiter. Die sind allesamt – man ahnt es – keine praktizierenden Fassenachter.
Autor John Birke schrieb die Texte, die mitunter an eine Soziologie-Vorlesung erinnern. Wenn sie aber Moderator Brezel Göring, die eine Hälfte des Berliner Trash-Pop-Duos "Stereo Total", mit Schiebermützen- und Straßenköter-Charme vorträgt, kriegen sie einen ganz anderen Dreh. Die musikalische Interpretation von "Rucki Zucki" und anderen Nummern obliegt dem jungen "Marburgjazzorchestra". Da werden nicht nur Märsche und Fastnachtsschlager gegen den Strich gebürstet. Im Repertoire des Abends finden sich neben "Heile Heile Gänsje" und "Am Aschermittwoch ist alles vorbei" auch Stücke von Heinz Schenk, Paul Kuhn, Max Greger, ja sogar von Jazzheroen wie Glenn Miller, Count Basie oder Klaus Doldinger. "Der ,Komplex' verbindet eben all diese verschiedenen gehassten und geliebten Helden der Unterhaltungsmusik, mit denen wir aufgewachsen sind, die wir abgespeichert haben und als künstlerisches Antibild in uns tragen", doziert Augst. "Es geht immer um die Frage: Wer sind wir? Und genau wie die Big Band bei uns die entnazifizierte Version der alten Blaskapelle ist, genauso ist Glenn Miller oder die funky ,Tatort'-Melodie Teil unserer gebrochenen Identität als Deutsche." Klingt nicht übel. So wird man bei der Wiederkehr des "Ernst-Neger-Komplexes" am 27. und 28. Februar (Rosenmontag und Fastnachtsdienstag) im Mousonturm Intellektuelle schunkeln sehen zu dieser komplexen Musik- und Textcollage mit Live-Hörspiel-Charakter, einer Mischung aus Anarchie und Schönheit, Kritik und Hingabe.
Eine ganz besondere Ehrung erfuhr der "Narrhallamarsch", von dem Franzosen Adolphe Adam (1803–1856) ursprünglich für eine Oper komponiert, dann zur Hymne der Mainzer Fastnacht geworden, schon vor 25 Jahren. Da war Rock-Avantgardist Frank Zappa in Frankfurt, um seine Orchestermusik "The Yellow Shark" mit dem Ensemble Modern auf die Bühne der Alten Oper zu bringen, sein letzter Auftritt vor seinem Tod ein Jahr später. Da erklang das "Wolle mer se reinlasse" mehr zickig als zackig und wie dafür gemacht als Intro zu "Welcome To The United States", zu dem Celeste- und Cembalospieler Hermann Kretzschmar im Uncle-Sam-Kostüm in unüberhörbar hessisch gefärbten Englisch die oft absurden Fragen zur Einbürgerung stellte – amüsiert beobachtet von Zappa, der stilecht mit Narrenkappe salutierte. Rainer Römer, damals wie heute Perkussionist des Frankfurter Ensemble Modern, erinnert sich noch heute an diese Highlight der Musikgeschichte: "Zappa saß beim Italiener mit unseren Blechbläsern zusammen und fragte unvermittelt bei der Pizza: Habt ihr hier eigentlich auch lokale Musik?" Den Musikern fiel spontan nur die Mainzer Fastnacht ein, sie spielten ihm den Tusch vor. "Das ist also eure Kultur", konstatierte Zappa verblüfft – und adelte den "Narhallamarsch" durch seine Interpretation.

Mousonturm Frankfurt, Waldschmidtsraße 4, 27. und 28. Februar, Beginn jeweils 20 Uhr. Tickets ab 19 Euro. Telefon: (069) 4 05 89 50.

hessenschau.de 23.2.2017

Ernst Neger Komplex in Marburg
Oliver Augst interpretiert Ernst Neger - eine postmoderne Hommage an den singenden Dachdeckermeister. Ernst Neger landete in den 1970er bei Mainzer Fastnachtssitzungen Hits wie "Heile Heile Gänsje" und "Humba Täterä". Oliver Augst ist ein Künstler aus Frankfurt, der gerne mit Musik- und Textcollagen, aber auch Live-Hörspielen experimentiert. Der "Ernst Neger Komplex" ist Augsts neuestes Projekt. In seinem Rücken: eine komplette Bigband. Los geht es um 19.30 Uhr. Tickets: 15 Euro.
Adresse: Hessisches Landestheater, Am Schwanhof 68-72, 35037 Marburg

Marburger Express, 22.2.2017

Helau! Die fünften Jahreszeit geht in ihre heiße Phase. Am Samstag wird um 11.11 Uhr das Marburger Rathaus gestürmt, am Montag startet um 13.33 Uhr der Karnevalsumzug. Wer sich dabei nicht ins Getümmel stürzen will, kommt am Sonntag im Theater am Schwanhof beim "Ernst Neger Komplex" vielleicht eher auf seine Kosten.
Da intoniert Sänger Oliver Augst die Gassenhauer des einstigen Mainzer Fastnachtsstars so schön – und hinterfragt das deutsche Fastnachts-Phänomen dabei so kritisch und unterhaltsam -, dass sowohl Faschingsfans als auch Karnevalsmuffel dabei definitiv ihren Spaß haben.

Ein Tusch geht immer

Die Prunksitzung als Performance
Von "Heile Heile Gänsje" bis "Humba Täterä": Gemeinsam mit Brezel Göring, Frontmann von Stereo Total und einer kompletten Big Band interpretiert Sänger und Komponist Oliver Augst die Hits des einstigen Stars der Mainzer Fastnacht, des singenden Dachdeckermeisters Ernst Neger, sowie anderer Helden der deutschen Unterhaltungsmusik. Im Interview mit dem Express erzählt Oliver Augst von seinem berührenden Ernst-Neger-Moment.

Ist das ein Stück für Faschingshasser?

Fastnacht, Fasching, Karneval – klar, es gibt Menschen, für die ist das ein No-Go. Ich habe mich gefragt, wie man sich sinnvoll mit diesem Phänomen auseinandersetzen kann? Ich bin selbst kein "Fastnachter..".. aber es gibt keinen Grund, diese uralte Tradition mit seinen Jahrhunderte zurückreichenden Wurzeln als Thema für eine künstlerische Auseinandersetzung auszuschließen, ganz im Gegenteil: Karneval ist Teil unserer Kultur, ob wir wollen oder nicht.

Express: Und was interessiert Sie künstlerisch am Karneval?

Was mich interessiert, ist das Sentiment oder vielmehr der Affekt, der sich da in so einer Prunksitzung ausdrückt. Es geht wie immer darum, aus dem Blickwinkel des eigenen Hier und Jetzt, einen Punkt der Berührung zu finden. Mit Humor und Experimentierfreudigkeit, nicht denunzierend aber auch nicht anheimelnd, versuchen wir auf schmalem Grat, durch eine historisch sehr ambivalente deutsche Sprach- und Musiklandschaft zu wandeln.
Wenn Sie so wollen, ist das eine kritisch-unterhaltsame Reflexion eines deutschen Phänomens - in Ironie, Überzeichnung und Reduktion - und eine Suche nach dem berühmten magischen, wunden, treffenden Punkt, analytisch und hingebungsvoll gleichzeitig. Und No-Gos kennen wir sowieso nicht. Wie sagt doch der berühmte deutsche Künstler Albert Oehlen so schön dazu "Die Reihenfolge (für eine künstlerische Arbeit) muß sein: erkennen, negieren, eliminieren und trotzdem machen!"

2. Sie würdigen die Gassenhauer - und setzen sich auch kritisch mit den Liedern und ihrer Rezeption auseinander?

Der Ernst Neger Komplex kam für mich folgerichtig nach der Auseinandersetzung z.B. mit Brecht/Eisler, Fassbinder/Raben, Matthias Beltz oder deutschen Volksliedern. Der singende Dachdeckermeister, das "Phänomen" Ernst Neger, dessen Lieder so ziemlich jeder kennt und mitsingen kann, die im besten und schlimmsten Sinne volkstümlich sind, steht also in guter Gesellschaft innerhalb des größeren von mir seit Jahren verfolgten Projekts ARCHIV DEUTSCHLAND. In diesem Fall ist es auch ein spezieller Blick auf Nachkriegsdeutschland, in das ich hineingeboren wurde und das einem aber auf den Fernsehaufnahmen der Mainzer Fastnacht irgendwie sonderbar fremd vorkommt.

Schaut man sich die Liste unseres "Musik-Materials" an, so gibt's da aber noch mehr als "Humba Humba Tätärä" und "Am Aschermittwoch ist alles vorbei" … Wir sehen Namen wie Heinz Schenk, Paul Kuhn, Max Greger, ja sogar Glenn Miller und Count Basie sind im Repertoire, dazu die "Tatort"-Melodie – und "Alles muss haargenau in eine tosende Ordnung gebracht werden" wie Antonin Artaud sagen würde ...

Der KOMPLEX beinhaltet eben all diese verschiedenen gehasst/geliebten Helden der Unterhaltungsmusik, mit denen wir aufgewachsen sind, die wir verinnerlicht, abgespeichert haben. Es geht also auch immer um die Frage, wer wir sind. Und genau wie die Big Band bei uns die entnazifizierte Version der alten Blaskapelle ist – übrigens sind die deutschen nach den US-amerikanischen Big Bands die besten der Welt -, genauso ist Glenn Miller oder die funky Tatort-Melodie Teil unserer mehrfach gebrochenen Ide

3. Wie sind Sie auf das Thema gekommen? Haben Sie die Lieder als Kind gehört?

Für mich gibt es einen bestimmten, sehr berührenden Ernst-Neger-Moment: Sein Auftritt im Fernsehen bei "Mainz wie es singt und lacht" Mitte der 60er Jahre mit "Heile Heile Gänsje". Das ist für mich mehr als ein Faschingshit. Das Lied hat seine Ursprünge im Volkslied. Ernst Neger war es damit auch ganz ernst, als er das singt, "Du armes Mainz, ich bau Dich wieder auf geschwind.." Alle haben geweint! Da tun sich natürlich Abgründe auf, da geht es darum, was Deutschland nach '45 sein soll und darf. Fasching ist ein Ventil, ein Ritual, das es den Deutschen erlaubt hat und erlaubt, sich selbst anders zu erleben, sich zu öffnen und gleichzeitig zuzudröhnen.

Herr Neger steht für mich also als so etwas wie der kleinste gemeinsame, allgemeingültige Nenner des sehnsüchtigen, Sinn suchenden Menschen, eigentlich der kompletten Skala aller Ab- und Beweggründe des Daseins. Bei Ernst Neger findet man eben wunderschöne, fast schüchterne musikalische Momente, aber auch den schlimmsten Mitklatsch- und Gute-Laune-Terror.
Das sind Porenöffner, wie ich sagen würde.

4. Wie kommt es zu der Zusammenarbeit mit dem marburgjazzorchestra*?
Unser Kontakt entstand über einen der ehemaligen Gastsolisten, der Band, Allen Jacobson. Das mjo hat seit seiner Gründung 2006 immer wieder mit wechselnden Gastkünstlern, Arrangeuren und Solisten gearbeitet. Zuletzt war es u.a. mit dem ECHO-Jazz-Preisträger Niels Klein auf Tour und verschreibt sich in erster Linie dem europäischen Jazz der Gegenwart. Über Hessen hinaus bekannt wurde das mjo vor allem durch den Fokus auf deutsche Bigbandliteratur der letzten zwanzig Jahre. Musik, die in der Tradition des großen amerikanischen Bigbandsounds den Einfluss der europäischen Klassik nicht verstecken will: Flöten und Klarinetten sind ebenso selbstverständlich geworden wie der Einsatz einer Gesangsstimme als Instrument.

Neben mir auf der Bühne performt Brezel Göring von Stereo Total, in der Rolle des Conferenciers und Anheizers. Er bringt genau die Mischung aus Anarchie und Schönheit, Kritik und Hingabe mit, um die es gehen soll. Eine Traumbesetzung!
Und ein bisschen Humbatäterä, tut der Kunst in jedem Fall gut.

5. Welchen Anteil hat das marburgjazzorchestra* an der Produktion?

Eine entsprechend offene, experimentierfreudige Bigband zu finden, die sich auch mal einen Spaß leisten und z.B. deftig mitgrölen kann bei einem Lied wie "So ein Tag, so wunderschön wie heute" und andererseits die nötige Präzision und absolute Professionalität mitbringt, ist uns mit dem mjo unter Leitung von Robin Bäumner absolut geglückt!
Frenetische Free-Jazz-Improvisation, dann wieder Dicke-Backen-Musik, dann Herz-Schmerz - und das alles innerhalb weniger Minuten, das können nicht viele Bands.
Unser Dirigent, Jonathan Granzow, schneiderte dann alles maßgerecht auf den Leib der Band und greift dabei bei der Instrumentierung in die Vollen: vom Tubax (einem sehr großen und tiefen Saxophon) bis zur Piccoloflöte.
Und ganz wichtig: Das marburgjazzorchestra ist quasi immer auch ein Ausweg: Wenn nichts meht geht - ein Tusch geht immer!

Fragen von Georg Kronenberg zu DER ERNST NEGER KOMPLEX, 26.2.2017 Theater Marburg



Journal Frankfurt Nr 6/2017, D. Kinsler

Tätära
Man darf zugeben, dass man sich als langjähriger Anwoh- ner und erklärter Nicht- Karnevalist im vergangenen Jahr darüber freute, dass der Klaa Pariser Fastnachtsum- zug abgesagt wurde. Zum Glück "nur" wegen einer Unwetter-, nicht einer Terrorwarnung. Denn wer braucht schon in Zeiten der Youngblood Brass Band oder Moop Mama holprig polternde Spielmannszüge in Marschmanier und ohnehin kräftige Oberschenkel verstärkende wollene Zopfstrumpfhosen wenn man dabei Bilder aus Rio der Janeiro im Auge und Sam- baklänge in den Ohren hat? Aber deshalb mal eben ein Flugticket buchen ... Es gibt Alternativen. Etwa die Alemannische Fastnacht in Schwarzwald und der Schweiz. Echte Brauchtums- pflege mit auch heidnischen Wurzeln und tollen Kostümen. Allein wegen der Guggenmusik lohnt ein Ausflug in den Süden. Aber auch in Frankfurt kann man an Rosenmontag und Fastnachtsdienstag alternativ Fastnacht feiern. Bei der Wiederaufnahme des Ernst Neger Komplex im Mousonturm – mit Oliver Augst, Brezel Göring und dem marburgjazzorchestras mit Karnevalschlagern à la "Humba Täterä" gegen den Strich gebürstet.

 

F.A.Z., Samstag den 18.02.2017 KulturLeben 48

Humba Täterä
Augst schaut der Fastnacht ins Gesicht

"Ich weiß, es wird einmal ein Wunder gescheh'n" singt Oliver Augst zwar nicht – aber ein kleines Wunder ist es doch, dass diese großartige Produktion jetzt noch einmal zu erleben ist. "Der Ernst Neger Komplex", so ihr Titel, sagt im Grunde alles: Roter Faden ist die Mainzer Fastnachtslegende Ernst Neger (1909–1989), der mit "Humba Täterä" ein an sich gesetztes Publikum zum Ausflippen brachte und mit "Heile, heile Gänsje" zu Tränen rührte. Warum eigentlich? Die Frage ist, buchstäblich, komplex. Dass man am Ende gescheiter den Saal verlässt, als man hineinging, und noch dazu bestens unterhalten – das gelingt, weil Augst, zusammen mit den klugen Texten des Bühnenautors John Birke, die Musik selbst ganz ernst nimmt: Die 17 Musiker des marburgjazzorchestra produzieren einen satten, in schräge Tuschs abdriftenden Sound, der den verführerischen Bariton von Oliver Augst trägt, bis immer wieder Brezel Göring, Frontmann der Band Stereo Total, als Conférencier auf die schwarzen und grauen Punkte im bunten Konfetti kommt, auf die deutsche Vergangenheit, die Seligkeit des Schlagers und den Drang zum Mitklatschen etwa. Ein phantastischer und ausgesprochen komischer Kontrapunkt in der närrischen Zeit. Vorstellungen am 26. Februar um 19.30 Uhr im Hessischen Landestheater Marburg, am 27. und 28. Februar jeweils um 20 Uhr im Frankfurter Mousonturm. emm.

Main-Echo Aschaffenburg
9.2.2017

Narrhallamarsch auf links gebürstet
Gute-Laune-Legende: Das »Ernst Neger Projekt« widmet sich den Helden deutscher Unterhaltungsmusik

»Hum­ba Tä­te­rä« und »Hei­le Hei­le Gäns­je« - so ziem­lich je­der kennt die Lie­der von Ernst Ne­ger, die im bes­ten und im sch­limms­ten Sin­ne volk­s­tüm­lich sind. Ih­nen wid­men sich John Bir­ke (Text), Bre­zel Göring (Mo­de­ra­ti­on) und Oli­ver Augst (Kon­zept, Ge­sang) mit ih­rer Show »Ernst Ne­ger Kom­plex«, die pünkt­lich zum Kar­ne­val am Ro­sen­mon­tag und am Fa­schings­di­ens­tag im Mou­son­turm in Frank­furt zu se­hen ist.
Das Programm ist eine Wiederaufnahme nach der erfolgreichen Premiere im vergangenen Jahr. In der Koproduktion nimmt sich das Trio, unterstützt vom Marburg Jazz Orchestra, in einer komplexen Musik- und Textcollage mit Live-Hörspiel-Charakter nicht nur der Hits des singenden Dachdeckermeisters an. »In diesem Fall ist es auch ein spezieller Blick auf Nachkriegsdeutschland, in das ich hineingeboren wurde, und das einem aber auf den Fernsehaufnahmen der Mainzer Fastnacht irgendwie peinlich und sonderbar fremd vorkommt«, sagt Oliver August.
»Herr Neger steht hierbei als so etwas wie der kleinste gemeinsame, allgemeingültige Nenner des sehnsüchtigen, Sinn suchenden Menschen, eigentlich der kompletten Skala aller Ab- und Beweggründe des Daseins«, führt der Musiker aus. »Bei Ernst Neger findet man eben wunderschöne, fast schüchterne musikalische Momente, aber auch den schlimmsten Mitklatsch- und Gute-Laune-Terror. Das sind Porenöffner, wie ich sagen würde.« Dass alle Teilnehmer der Performance keinen praktizierenden Karnevalisten sind, versteht sich fast von selbst. »Es geht uns aber auch gar nicht so sehr um den Karneval. Was uns interessiert, ist das Sentiment oder vielmehr der Affekt, der sich da in so einer Prunksitzung ausdrückt«, erklärt Augst.
Aber vor der »Affektbekämpfung« steht die Auseinandersetzung mit dem Ereignis. »Mit Humor und Experimentierfreudigkeit, nicht denunzierend, aber auch nicht anheimelnd, versuchen wir auf schmalem Grat, durch eine historisch sehr ambivalente deutsche Sprach- und Musiklandschaft zu wandeln. Wenn du so willst, ist das eine kritisch-unterhaltsame Reflexion eines deutschen Phänomens - in Ironie, Überzeichnung und Reduktion - und eine Suche nach dem berühmten magischen, wunden, treffenden Punkt, analytisch und hingebungsvoll gleichzeitig«, erläutert der Sänger.
In der Repertoireliste des Abends finden sich neben »Heile Heile Gänsje«, »Ruckizucki« und »Am Aschermittwoch ist alles vorbei« auch Namen wie Heinz Schenk, Paul Kuhn, Max Greger, ja sogar Jazz-Interpreten wie Glenn Miller und Count Basie, dazu die »Tatort«-Melodie.
»Der Komplex beinhaltet eben all diese verschiedenen gehassten/geliebten Helden der Unterhaltungsmusik, mit denen wir alle aufgewachsen sind, die wir verinnerlicht, abgespeichert haben und als künstlerisches Antibild in uns tragen«, legt Augst dar. »Es geht also auch immer um die Frage, wer wir sind. Und genau wie die Big Band bei uns die entnazifizierte Version der alten Blaskapelle ist, genauso ist Glenn Miller oder die funky ›Tatort‹-Melodie Teil unserer mehrfach gebrochenen Identität als Deutsche.«
Mit John Birke, der schon bei »Stadt der 1000 Feuer« 2013 im Mousonturm dabei war, und Brezel Göring, der männlichen Hälfte des Berliner Pop-Trash-Duos Stereo Total, weiß Augst kongeniale Partner an seiner Seite. »Brezel und John sind alte Partner von mir. Brezel bringt genau die Mischung aus Anarchie und Schönheit, Kritik und Hingabe an Popmusik mit, um die es gehen soll. Mit Stereo Total hat er das Genre Easy Listening hierzulande quasi neu erfunden und gleichzeitig auf ein ganz anderes Niveau gehoben. Brezel wird die Rolle des Conférenciers und Anheizers übernehmen, während ich mich aufs Singen konzentriere«, veranschaulicht Augst. »John schreibt schon seit Jahren Texte für mich und performt auch mit mir auf der Bühne, wobei er sich dieses Mal auf die Rolle des Textzulieferers beschränkt hat. Und beim Marburg Jazz Orchestra hatten wir das große Glück, ein Ensemble zu finden, das so viel Spielfreude und Mut bei gleichzeitiger hoher Professionalität mitbringt, dieses Material mit uns zusammen zu erarbeiten und sich von Jonathan Granzow, unserem Dirigenten, auf den Leib arrangieren zu lassen. Eine Traumbesetzung.«

»Der Ernst Neger Komplex«, Mousonturm Frankfurt, 27. und 28. Februar, 20 Uhr, Eintritt 19 Euro (Vorverkauf).
Detlef Kinsler

 

Allgemeine Zeitung Mainz, 9.2.2017

Schönheit im Schunkelwahn
ERNST NEGER

Entertainer Oliver Augst lädt zum Themenabend an Fastnacht nach Frankfurt

"Alle haben geweint": Entertainer Oliver August über "Heile, heile Gänsje" und die Mainzer Fastnachts-Legende Ernst Neger

MAINZ - Ernst Neger – nicht nur in der Kampagne ist seine Hinterlassenschaft, seine Musik, allgegenwärtig. Und das nicht nur in Mainz. Der aus Andernach stammende und in Paris und Frankfurt lebende Komponist, Sänger und Produzent Oliver Augst widmet dem Mainzer jetzt sogar ein komplettes Programm unter dem Titel "Der Ernst-Neger-Komplex". Wir sprachen mit dem 55-Jährigen.

Herr Augst, welche Erinnerungen verbinden Sie persönlich mit Ernst Neger?

Für mich gibt es einen bestimmten sehr berührenden Ernst-Neger-Moment: Sein Auftritt im Fernsehen bei "Mainz wie es singt und lacht" Mitte der 60er Jahre mit "Heile Heile Gänsje". Das ist für mich mehr als ein Faschingshit. Das Lied hat seine Ursprünge im Volkslied. Ernst Neger war es damit auch ganz ernst, als er das singt, "Du armes Mainz, ich bau Dich wieder auf." Alle haben geweint! Da tun sich natürlich Abgründe auf, da geht es darum, was Deutschland nach '45 sein soll und darf. Es geht uns nicht nur um Fasching. Fasching ist ein Ventil, ein Ritual, das es den Deutschen erlaubt hat und erlaubt, sich selbst anders zu erleben, sich zu öffnen und gleichzeitig zuzudröhnen. Wie Jan Delay über deutsches Fernsehen mal gesungen hat: "Ich genieße die Offenbarung einer peinlichen Nation."

Wie entstand die Idee, ihm ein komplettes Programm zu widmen?

Der Ernst Neger Komplex kam für mich folgerichtig nach der Auseinandersetzung zb. mit Brecht/Eisler, Fassbinder/Raben, Matthias Beltz oder deutschen Volksliedern. Der singende Dachdeckermeister, das "Phänomen" Ernst Neger, dessen Lieder so ziemlich jeder kennt und mitsingen kann, die im besten und schlimmsten Sinne volkstümlich sind, steht also in guter Gesellschaft innerhalb des größeren von mir seit Jahren verfolgten Projekts ARCHIV DEUTSCHLAND. In diesem Fall ist es auch ein spezieller Blick auf Nachkriegsdeutschland, in das ich hineingeboren wurde und das einem aber auf den Fernsehaufnahmen der Mainzer Fastnacht irgendwie sonderbar fremd vorkommt.

Schaut man sich die Liste unseres "Musik-Materials" an, so gibt's da aber noch mehr als "Humba Humba Tätärä" und "Am Aschermittwoch ist alles vorbei" … Wir sehen Namen wie Heinz Schenk, Paul Kuhn, Max Greger, ja sogar Glenn Miller und Count Basie sind im Repertoire, dazu die "Tatort"-Melodie – und "Alles muss haargenau in eine tosende Ordnung gebracht werden" wie Antonin Artaud so schön für uns vorformulierte...

Der KOMPLEX beinhaltet eben all diese verschiedenen gehasst/geliebten Helden der Unterhaltungsmusik, mit denen wir aufgewachsen sind, die wir verinnerlicht, abgespeichert haben. Es geht also auch immer um die Frage, wer wir sind. Und genau wie die Big Band bei uns die entnazifizierte Version der alten Blaskapelle ist – übrigens sind die deutschen nach den USA die besten Big Bands der Welt -, genauso ist Glenn Miller oder die funky Tatort-Melodie Teil unserer mehrfach gebrochenen Identität.
Inwiefern spielt Ernst Neger in ihrem Programm eine Rolle? Singen Sie seine Lieder? Geht es um die Mainzer Fastnacht? Konkret gefragt: Was habe ich mir unter dem Programm vorzustellen?

Fastnacht, Fasching, Karneval – es gibt Menschen, für die ist das ein No Go. Ich habe mich gefragt, wie man sich sinnvoll mit diesem Phänomen auseinandersetzen kann? Ich bin selbst kein "Fastnachter..".. aber es gibt keinen Grund diese uralte Tradition mit seinen Jahrhunderte zurückreichenden Wurzeln als Thema für eine künstlerische Auseinandersetzung auszuschließen, ganz im Gegenteil: Karneval ist Teil unserer Kultur, ob wir wollen oder nicht.

Was uns interessiert ist das Sentiment oder vielmehr der Affekt, der sich da in so einer Prunksitzung ausdrückt. Es geht wie immer darum, aus dem Blickwinkel des eigenen Hier und Jetzt, einen Punkt der Berührung zu finden. Mit Humor und Experimentierfreudigkeit, nicht denunzierend aber auch nicht anheimelnd, versuchen wir auf schmalem Grat, durch eine historisch sehr ambivalente deutsche Sprach- und Musiklandschaft zu wandeln.
Wenn Sie so wollen, ist das eine kritisch-unterhaltsame Reflexion eines deutschen Phänomens - in Ironie, Überzeichnung und Reduktion - und eine Suche nach dem berühmten magischen, wunden, treffenden Punkt, analytisch und hingebungsvoll gleichzeitig. Und No-Gos kennen wir sowieso nicht. Wie sagt doch der berühmte deutsche Künstler Albert Oehlen so schön dazu "Die Reihenfolge (für eine künstlerische Arbeit) muß sein: erkennen, negieren, eliminieren und trotzdem machen!"

Vielleicht ist es sinnvoll auch noch den "Komplex" im Titel zu erläutern. Das ist natürlich ein Wortspiel: Zum einen machen wir ein ganzes Feld der Unterhaltungsmusik auf. Es geht also nicht nur um Ernst Neger als Person, sondern um den Komplex Schlager oder volkstümliche Unterhaltung. Zum anderen gibt es da dieses schwierige Verhältnis der Deutschen, aber auch von mir selbst, zu dieser Art von Wohlfühl- und Spaßkultur, eben schon fast ein Komplex, also im psychologischen Sinne, ein Spaß-Komplex. Und dann ist diese Musik auch nicht einfach nur simpel und stumpf, sondern sie wirkt auf teilweise sehr komplizierte, widersprüchliche Weise, ist eben auch auf ihre eigene Art komplex...

Aber konkret, was passiert auf der Bühne: Brezel Göring bringt genau die Mischung aus Anarchie und Schönheit, Kritik und Hingabe an Popmusik mit, um die es gehen soll. Mit Stereo Total hat er das Genre Easy Listening hierzulande quasi neu erfunden und gleichzeitig auf ein ganz anderes Niveau gehoben. Brezel wird die Rolle des Conferenciers und Anheizers übernehmen, während ich mich aufs Singen konzentriere. Und beim marburgjazzorchestra* hatten wir das große Glück, ein Ensemble zu finden, das so viel Spielfreude und Mut bei gleichzeitiger hoher Professionalität mitbringt, dieses Material mit uns zusammen zu erarbeiten und sich von Jonathan Granzow, unserem Dirigenten, auf den Leib arrangieren zu lassen. Eine Traumbesetzung!

Was macht Ihrer Meinung nach bis heute die Begeisterung an den Liedern von Ernst Neger aus?

Herr Neger steht für mich als so etwas wie der kleinste gemeinsame, allgemeingültige Nenner des sehnsüchtigen, Sinn suchenden Menschen, eigentlich der kompletten Skala aller Ab- und Beweggründe des Daseins. Bei Ernst Neger findet man eben wunderschöne, fast schüchterne musikalische Momente aber auch den schlimmsten Mitklatsch- und Gutelaune-Terror.

Das sind Porenöffner, wie ich sagen würde.

Allein ums Kritisieren und Parodieren geht es mir nicht, denn das Ziel ist immer Schönheit, und zwar eine Schönheit ohne Beschönigung (wie das echte "Volklied" im Gegensatz zum "volkstümlichen Lied" a la Musikantenstadel oder Florian Silbereisen schön sein kann) Diese Schönheit ist nichts Statisches, sondern sucht sich ständig neu zu definieren.

Außerdem gehe ich dabei wirklich von mir selbst aus. Ich würde "Heile Heile Gänsje" oder "Es ist alles nur geliehen" von Heinz Schenk nicht singen, wenn ich es nicht auf irgend einer bestimmten Ebene auch wirklich gut finden würde. Und wer ehrlich ist, der kennt diese Ambivalenz, die wir da benennen, vom Musikhören. Man findet es vielleicht vom Kopf her unsäglich, kann aber trotzdem davon berührt sein.
Ihr Auftritt im Frankfurter Mousonturm findet an Rosenmontag statt… Erwartet die Gäste dort ein Fastnachtsabend oder sollte man eher in Zivil erscheinen?

Wir spielen im Mousonturm am Rosenmontag und am Faschingsdienstag, ja, aber wir selbst gehen mit Kostümen etc eher sparsam um (dafür ist die Lightshow umso üppiger!) – Ernst Neger hat ja eigentlich auch nie ein richtiges Faschingskostüm getragen. Ich werde eine Fliege anziehen (was ich sonst nie tue!)... aber ich kann Ihnen verraten, dass es auch Konfetti und eine rote Pappnase geben wird! Und Mitklatschen fänd ich toll!

Mit oder ohne Kostüm: Ist Ernst Neger der sprichwörtliche "kleine Mann", also der Held der politisch Machtlosen und Resignierten, die auch ihren Spaß und ihren eigenen Ausdruck beanspruchen, oder wird jemand wie Ernst Neger von "oben" dirigiert, um die Masse möglichst unpolitisch und anspruchslos zu halten? Gibt man sich durch Adorno geschlagen, der über den Schlager gesagt hat, er "beliefere die zwischen Betrieb und Reproduktion der Arbeitskraft Eingespannten mit Ersatz für Gefühle, von denen ihr Ich-Ideal sagt, sie müssten sie haben." Oder darf ich mich bei so was als kritischer Mensch auch ein bisschen wohlfühlen, die eine oder anderer Träne verdrücken, und was sagt das über mich aus?

Man darf halt nicht vergessen, dass die Mainzer-Fastnacht jahrelang DIE meistgeschaute Fernsehsendung der BRD war und heute 4 Millionen Menschen jede Woche Musikantenstadl schauen. Das ist einfach die Realität! Daran kann man als Künstler nicht einfach nur vorbeischauen. Deswegen halte ich es mit dem großen Hanns Eisler der sagte: "Die modernen bürgerlichen Komponisten leben gleichsam wie in einem Glashaus, getrennt von der Wirklichkeit. Ihre Werke spiegeln nicht die großen Kämpfe unserer Zeit wider. Sie sagen nur aus vom Innenleben der Komponisten selbst, oder sie haben rein technischen Charakter. Wenn der Adorno nur einmal verstehen würde, daß Musik von Menschen für Menschen gemacht wird!"

Ein bisschen Humbatäterä, tut der Kunst in jedem Fall gut.

Das Interview führte Maike Hessedenz.

FNP 08.02.2016
Faschingshasser horchen auf
Von Marcus Hladek
Frankfurts Mousonturm feierte mit „Der-Ernst-Neger-Komplex“ von Oliver Augst, Brezel Göring und John Birke eine karnevaleske Konzert-Performance.

Frankfurt. 
Fasching für Karnevalshasser – geht das? Ja, wie Oliver Augst (hier als Sänger im Stil Peter Alexanders), Moderator Brezel Göring und Textautor John Birke jetzt vorführten. Einen Theodor W. Adorno auf Karnevalssitzung kann man sich zwar kaum vorstellen, obwohl gewisse Textpassagen nach der Bütt’ schreien. Da war indes die Abneigung gegen die Banausen vor, die Scheu vor schwiemelnden Kollektiverlebnissen. Umso bemerkenswerter also, dass diese Anti-Sitzung jetzt bei vollem Zugriff auf den Adorno-Jargon einen gedankenreichen Gegen-Karnevalsabend trug. Bigband-Begleitung: „marburgjazzorchestra“.
Der „Ernst-Neger-Komplex“ erwies sich als gewieft-vergnügliche Meditation darüber, warum viele den Fernsehkarneval oder auch den „Blauen Bock“ stets zwiespältig empfanden, gar hassten. Es beginnt mit den Namen: Ernst Neger??? Dabei hieß der singende Dachdecker aus Mainz wirklich so. In Liedern wie „Humba, humba, humba – Tätärä“ ritt er auf dem Neger in sich indessen herum, was die Macher zur Textexegese an „Heile, heile Gänschen“ antreibt. Da fällt schon das doppelte „Heil“ auf. In den Nachkriegsstrophen an „Mein arm’ zertrümmert’ Meenz“ heißt es weiter: „Ja, Du warst doch gar net schuld./ ... Heile heile Mausespeck/ In hunnerd Jahr is alles weg.“ Brezel Göring, dieser absurd magere Mann mit Ostpreußen-Käppi und Fantasie-Uniform, kommentierte: „Wenn man dem Neger applaudierte, wer wollte da noch was vermuten? Und jetzt alle: Du warst ja gar net schuld! In tausend Jahr’ is alles weg!“ So klingt es zum Narrhalla-Marsch, nach dem angekündigten (doch dann ungespielten!) Horst-Wessel-Lied und einem Beisl-Lied des Kunst-Wieners Augst. Römer-Gläschen füllen die TV-Sitzecke rechts vorn, erinnern so an den „Blauen Bock“ und dessen Wiener Gäste. Im Kontext zieht man den Schluss, dass Österreich den Deutschen ja nicht nur Beisl-Lieder und Udo Jürgens schenkte. Sondern auch Hitler, Eichmann, acht von zwölf KZ-Kommandanten und vierzig Prozent der im KZ aktiven SS-Offiziere.
„Der Ernst Neger Komplex“ ist eigentlich gar kein Anti-Karneval. Er ist eine Rettung des Karnevals vor den Gebildeten unter seinen Verächtern. Beim kernig-sonoren Sänger Augst begann das mit Musik gegen den Vater („Er war der Typ, der sagte: Scheiß-Negermusik!“). Neuerdings lässt Augst die Welt des Vaters aber doch wieder aufschimmern: „Erkennen, negieren, eliminieren – und trotzdem machen.“ Davon zeugte der Abend.

 

FRANKFURTER RUNDSCHAU 2016/02/08
Singen, wo es weh tut
„Der Ernst Neger Komplex“ mit Oliver Augst im Mousonturm
Von Hans-Jürgen Linke
Oliver Augst, Brezel Göring und das marburgjazzorchestra mit „Der Ernst-Neger-Komplex“ im Mousonturm Frankfurt.

So ein Tag, der dürfte nie vergeh’n. Alle freuen sich, zunächst ein bisschen unter Vorbehalt. Vielleicht wäre es ja auch wirklich ein schöner Tag gewesen, wenn nicht alles so kompliziert wäre, weil sich überall und immer die Geister scheiden: an der Musik, an der Schönheit, an Tagen wie diesen und ganz besonders am Karneval. Am Fußball allerdings kaum noch.
Oliver Augst geht in der Produktion „Der Ernst-Neger-Komplex“ dort hin, wo es weh tut. Er singt all die volkstümlichen, textlich und musikalisch so betont einfachen Mainzer Karnevalslieder distanzlos und sängerisch überzeugend, mit seiner wohlausgebildeten und durchaus viril timbrierten Baritonstimme. In der Fassenacht würden sie ihn wahrscheinlich lieben dafür, über Tische und Bänke würden sie für ihn gehen und mitsingen und mitklatschen und strahlen übers ganze Gesicht.
Aber das Publikum im Mousonturm ist ein anderes, zumindest denken das alle, und darum hat Oliver Augst sich auch verkleidet. Er ist nicht der hemdsärmelige deutsche Handwerker von nebenan, er ist der Entertainer mit schwarzem Abendanzug und Fliege. Und er ist nicht allein. Das marburgjazzorchestra, verkleidet als Tanz- und Unterhaltungsorchester, spielt von Jonathan Granzow (als Dirigent verkleidet) schön arrangierte Gassenhauer, schräge Tuschs und Tatort-Jingle-Variationen, und Brezel Göring ist eine Art Clown im roten Anzug oder mit einem zum royalen Uniform-Teil hochgejazzten Malerkittel, ein Geist, der stets erklärt und kommentiert und sich entschuldigt und dazu auf Texte von John Birke zurückgreift. Er gibt Oliver Augst die Freiheit, all das Schunkelzeugs so heimelig zu singen, kommentarlos, ohne etwas zu erklären und ohne sich für die verlogene, geradezu brutale Simplizität der gesungenen Botschaften zu entschuldigen. Man könnte, in dieser von Reflexion und Ironie gegen ansteckende Volkstümlichkeit immunisierten Umgebung, glatt Karneval mitfeiern.
Das heißt: Oliver Augsts Musiktheaterstück stellt auch Fallen auf, in die das Publikum tappen und dabei etwas über sich selbst erfahren kann. Die größte Falle ist die einfachste von allen, die Gattungsbezeichnung: Was der äußeren Form nach überwiegend wie ein für kritisch denkende Menschen lustig moderierter Liederabend daher kommt, ist eigentlich eine Musiktheater-Produktion. Weit offen steht darin die Mitklatsch-Falle, wenn Brezel Göring „Und jetzt alle!“ schreit. Natürlich klatscht und singt niemand mit (oder sagen wir vorsichtshalber fast niemand), zumal das marburgjazzorchestra das auch nicht unterstützt. Aber es entstehen immer Situationen, in denen man meint, eigentlich könnte man das jetzt tun. Aus unschuldiger Freude an der Einfachheit des Angebots. Dann schnappt die Falle zu. Sie tut das etwa in Form eines ironisch gebrochenen Diskurses über die intime Nähe zwischen Verdrängung des Nationalsozialismus und Fünfziger-Jahre-Volkstümlichkeit. Zwischen der Verwüstung Europas durch ein sich selbst als „tausendjährig“ titulierendes Reich und der betulich gesungenen Versicherung, in hundert Jahres sei alles weg. Und dann geht’s humpta humpta humpta tätärä

 

Offenbach Post 04.02.16
Volkstümliche Gratwanderung
Oliver Augst nimmt sich unverwüstlicher Fastnachts-Hits an
Oliver Augst will den Gute-Laune-Terror nicht verteufeln, sondern betrachtet Ernst Negers Musik als Teil seines Projekts „Archiv Deutschland“.

Frankfurt Der Frankfurter Musik-Performer Oliver Augst hat sich – passend zur - „fünften Jahreszeit“ – in seinem neuesten Projekt der Fastnachts-Schlager von Ernst Neger angenommen. Von Detlef Kinsler
Es ist noch gar nicht lange her, da zog Oliver Augst vom Main an die Seine, tauschte sein Hausboot nahe der Stadtgrenze mit einem neuen Domizil südlich des Eiffelturms. Trotzdem bleibt der Autor, Sänger und Produzent präsent in der Frankfurter Kulturszene. Am ersten Februarwochenende, kurz vor den tollen Tagen der fünften Jahreszeit, bringt Augst die Konzert-Performance „Der Ernst Neger Komplex“ auf die Bühne des Mousonturms. Unterstützung bekommt er dabei von John Birke (Text), der schon bei der letzten Ko-Produktion im Künstlerhaus, „Stadt der 1000 Feuer“, 2013 dabei war, und von Brezel Göring (Moderation), der mit seiner Band Stereo Total am 17. April wieder in die Waldschmidtstraße kommt.
„Brezel und John sind alte Partner von mir. Brezel bringt genau die Mischung aus Anarchie und Schönheit, Kritik und Hingabe an Popmusik mit, um die es gehen soll. Mit Stereo Total hat er das Genre Easy Listening hierzulande quasi neu erfunden und gleichzeitig auf ein ganz anderes Niveau gehoben. Brezel wird die Rolle des Conférenciers und Anheizers übernehmen, während ich mich aufs Singen konzentriere“, erklärt Augst. „John schreibt schon seit Jahren Texte für mich und performt auch mit mir auf der Bühne, wobei er sich dieses Mal auf die Rolle des Textzulieferers beschränkt hat.“ Was sie gemeinsam mit dem Marburg Jazz Orchestra erarbeitet haben, ist ein Repertoire, das man von einem Schöngeist wie Oliver Augst vielleicht nicht erwartet. Schließlich verbindet man den Namen des Initiators mit Bearbeitungen von Brecht/Eisler, Fassbinder/Raben oder Matthias Beltz. Wie passt da der „singende Dachdeckermeister“ Ernst Neger mit seinen Fastnachtsschlagern ins Bild?
Im Gespräch ruft Augst das Hörspiel „Volksliedmaschine“ und eine CD mit neubearbeiteten Volksliedern „An den deutschen Mond“ in Erinnerung: „Insofern steht ein Phänomen wie Ernst Neger, dessen Lieder so ziemlich jeder kennt und mitsingen kann, die also im besten und schlimmsten Sinne volkstümlich sind, in guter Gesellschaft innerhalb des größeren von mir seit Jahren verfolgten Projekts ,Archiv Deutschland’.“ Auch wenn sich Augst klar dazu bekennt, kein „Fastnachter“ zu sein, sieht er keinen Grund, diese Tradition mit ihren Jahrhunderte zurückreichenden Wurzeln als Thema für eine künstlerische Auseinandersetzung auszuschließen. „Ganz im Gegenteil: Karneval ist Teil unserer Kultur, ob wir wollen oder nicht“, betont der Sänger. „Es geht uns aber auch gar nicht so sehr um den Karneval. Was uns interessiert, ist das Sentiment oder vielmehr der Affekt, der sich da in so einer Prunksitzung ausdrückt.“Und so finden sich neben „Heile, heile Gänsje“, „Humba Täterä“ und dem „Narhallamarsch“ auch Titel wie „Alles nur geliehen“ (Heinz Schenk lässt grüßen), die „Tatort“-Titelmelodie, das musikalische Intro zum „Aktuellen Sportstudio“ und sogar Glenn Millers „In A Sentimental Mood“ auf der Setliste des Konzertabends. „Es geht also auch immer um die Frage, wer wir sind. Und genau wie die Big Band bei uns die entnazifizierte Version der alten Blaskapelle ist, genauso ist Glenn Miller oder die funky ,Tatort’-Melodie Teil unserer mehrfach gebrochenen Identität als Deutsche“, verdeutlicht Augst.
Wer aber erwartet, dass hier Intellektuelle den Gute-Laune-Terror verteufeln, wird vielleicht verwundert feststellen, wie die Annäherung funktioniert: „Mit Humor und Experimentierfreudigkeit, nicht denunzierend aber auch nicht anheimelnd, versuchen wir auf schmalem Grat durch eine historisch sehr ambivalente deutsche Sprach- und Musiklandschaft zu wandeln. Wenn man so will, ist das eine kritisch-unterhaltsame Reflexion eines deutschen Phänomens – in Ironie, Überzeichnung und Reduktion – und eine Suche nach dem berühmten magischen, wunden, treffenden Punkt, analytisch und hingebungsvoll zugleich.“ „Der Ernst Neger Komplex“ am 5. und 6. Februar im Frankfurter Mousonturm.

 


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