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Konzept:

DER ERNST NEGER KOMPLEX
Konzert-Performance für Sänger, Sprecher und Bigband

Gesang: Oliver Augst
Sprecher: Brezel Göring (Stereo Total)
Live Musik: marburgjazzorchestra*
Text: John Birke
Konzept: Oliver Augst
Dramaturgie: JP Possmann
Arrangement: Jonathan Granzow
Produktionsleitung: Matti Kunstek
Produktion: textXTND, Mousonturm Frankfurt, SWR

Realisation: ab September 2015
Uraufführung: 5. Februar 2016, Mousonturm Frankfurt/Main
Förderung: Stadt Frankfurt, Land Hessen, Aventis foundation, Fond Darstellende Künste

DER ERNST NEGER KOMPLEX setzt die Reihe Archiv Deutschland fort, an der textXTND seit einigen Jahren arbeitet. Nach STADT DER 1000 FEUER (hr, swr, 2013), und ALLE TOTEN 1914 (Deutschlandradio Kultur, rbb, hr2 und Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Berlin, 2014) beschäftigt sich DER ERNST NEGER KOMPLEX mit dem populären Lied in der BRD der Nachkriegszeit. Wie die beiden Vorgängerproduktionen ist DER ERNST NEGER KOMPLEX als Musiktheater und Hörspiel konzipiert.

DER ERNST NEGER KOMPLEX greift den Mainzer Karnevalssänger und Entertainer Ernst Neger als Phänomen auf, als Symbol für die Möglichkeit und Unmöglichkeit, vor fremden Menschen zu singen. Für den Sänger Oliver Augst ist Ernst Neger Referenz, Zerrspiegel und Symbol; das Verhasste, Ignorierte, Verachtete – und doch heimlich Geliebte. Die Konzert-Performance DER ERNST NEGER KOMPLEX ist problematisches Entertainment, stotterndes Halligalli, zaghafte Stimmungskanone und die große Umarmung; Tschingarassabumm nach '45.

"Wenn der Adorno nur einmal verstehen würde, daß Musik von Menschen für Menschen gemacht wird." (Hanns Eisler)

Das Volk soll sich nicht versammeln, es soll sich zerstreuen!“ (Metternich)

Problematischer Pop
Mit der Rock-n-Roll-Revolution wird das Konzert zum Problem. Ab Ende der Fünfziger Jahre rüsten Publikum und MusikerInnen zum Kampf. 1969 erklären die Stones in Alamont dem Publikum den Krieg. Ab jetzt heißt es: wir gegen die. Der Rock wird schmerzhaft, der Jazz wird unverständlich, Klassik wird verscherbelt.

In Deutschland ist das Publikum nach '45 sowieso unter Verdacht. Nur beim Karneval darf in der BRD das große Wir gefeiert, die große Umarmung geprobt, Seite an Seite geschunkelt werden. Der ungekrönte König der sehr leichten Muse ist Ernst Neger, der bescheidene, einfache Handwerker, der mit seinen Hits die Deutschen in Schweiß bringt und zu Tränen rührt. Heute kennt kaum noch jemand Neger, aber die Lieder, die er und sein Pianist Toni Hämmerle raushauten - „Humba Täterä“, „Es gibt kein Bier auf Hawaii“, „Heile Heile Gänsje“ - kennt jeder.

„Der Urheber setzt sich durch, indem er verschwindet“ schreibt Brecht 1929. Das Publikum hat den Sänger Ernst Neger verdaut und sich seine Lieder einverleibt. Aber wen und was verdaut das kollektive Gedächtnis dabei immer wieder?

Klang und Körper
Der Poptheoretiker Diedrich Diederichsen schreibt, dass Popmusik jene Musik sei, bei der man beim Hören der Platte wissen will, wie der Sänger aussieht. Das ist die Erotik des Pop. Der Körper hinter dem Klang ist das erotische Versprechen auf Vereinigung – das Populäre und seine Möglichkeit der Effervesenz. Die Freude durch die Auflösung der Einsamkeit – sei es der Geliebte, der wahre Freund, der perfekte Dandy, die Menschmaschine, Dancing Machine oder doch nur der Charme des Banalen.

Das Konzert ist immer die Erfüllung und Entzauberung des Sounds. Entsprechend hoch ist die Fallhöhe. Die Studiotechnik arbeitet seit den 60er Jahren mit falscher Liveness, mit vermeintlicher Konzertatmosphäre, die auf Studioaufnahmen gelegt wird, um die Aura des Moments zu reproduzieren – eines Moments, den es nie gab. Live ist also längst nicht mehr live, Nähe ist ein technischer Gadget geworden, Intimität ein Plug in.

Singen und Reden
DER ERNST NEGER KOMPLEX ist ein Abend für den Sänger Oliver Augst. Auf der Bühne zur Seite steht ihm ein Conferencier, verkörpert von dem Chanson-Berserker Brezel Göring. Der Conferencier, der Master of Ceremony, war im klassischen Popbusiness selbst ein Star. Er gebietet über die Show und lässt die Puppen tanzen, verbindet, reflektiert und kokettiert. Darf der Sänger nur singen, muss der Conferencier die ganze Zeit sprechen. In DER ERNST NEGER KOMPLEX wird durchgespielt, wie Sprechtext die Musik strategisch begleitet, unterfüttert, überformt; wie der Text das Musiktheater aus dem Ruder laufen lassen kann; wie er zur Performance wird und die Musik zur Nummerncollage degradiert – Moderation als Paratext, Parasitärformat oder eigenständige künstlerische Kategorie. Den Text für Brezel Göring schreibt der dafür äußerst geeignete Theaterautor John Birke.

Einsam und Gemeinsam
Einer für alle, alle gegen einen, einer gegen den Rest der Welt. Eingeklemmt zwischen dem vielköpfigen marburgjazzorchestra* und dem noch zahlreicheren Publikum muss der Sänger Augst seine Position behaupten. Die Bigband ist die Kavallerie, die dem Sänger den Rücken freihält und ihn dabei unerbittlich vor sich her treibt. In DER ERNST NEGER KOMPLEX ist sie gleichzeitig Bühnenbild und Klangkörper, Fläche für Illustration und Widerstand.

Bigband, das ist die Reeducation-Version der deutschen Marschkapelle, sie vereint deutsche Tugenden wie Präzision und Gewalt mit dem Swing der freien Welt. Und dank jahrzehntelanger staatlicher Förderung, denn auch Musik ist durch und durch Politik, klingen Bigbands nirgendwo außerhalb der USA so gut, wie hier.

Das Material besteht aus den wahren Hits der jungen BRD – den Liedern, die Ernst Neger im Mainzer Karneval gesungen hat. Diese zu Tode gespielte und zum Krach verkürzte Musik wird neu arrangiert und von Oliver Augst und dem marburgjazzorchestra* wieder zum Leben erweckt. Augst transportiert das Liedmaterial gleichzeitig zwischen E und U, Krach und Sentiment. DER ERNST NEGER KOMPLEX ist so Archivarbeit und Spurensuche deutscher Musik zwischen Scham, Entäußerung und Trauer.

Musiktheater und Hörspiel
DER ERNST NEGER KOMPLEX soll in zwei Formaten realisiert werden, live und als Studioproduktion in Zusammenarbeit mit dem SWR. Dabei handelt das Projekt gerade auch von dem Live-Format, also vom Live-vor-Publikum-Singen. Musiktheater und Hörspiel sind hier mediale Reflektionen auf das Thema, wobei das Hörspiel sich die Möglichkeiten der Studioproduktion gezielt zu nutzen macht. Die Hörspielfassung setzt auf den Kontrast zwischen (vermeintlicher) Live-Dokumentation und der akustischen Intimität des Studios. Dadurch wird der Radiohörer in das Spiel aus Nähe und Distanz, das der Bühnenentertainer auf der Bühne virtuos beherrscht, hineingezogen. Die Radioübertragung eröffnet eine weitere Ebene, das Thema der Liveness zu bearbeiten.

 

Oliver Augst
Sänger, Komponist, studierte visuelle Kommunikation mit Schwerpunkt Bühne an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach und Popularmusik/Performance an der Hochschule für Musik und darstellende Kunst in Hamburg. 
Oliver Augsts Musik-, Theater-, und Hörspielproduktionen, u.a. in Zusammenarbeit mit Blixa Bargeld, On Kawara und dem amerikanischen Künstler Raymond Pettibon (Dokumenta11), werden seit 1991 international präsentiert.

“He is a musician that is crossing real boundaries. If you haven't heard of him, it's because he's crossed a boundary that matters.” Downtown, NYC

https://de.wikipedia.org/wiki/Oliver_Augst

John Birke
Geboren 1981 in Toronto, aufgewachsen in Berlin und Stuttgart. Studium der Philosophie in Leipzig sowie Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus in Hildesheim, wo er heute auch einen Lehrauftrag für Dramatisches Schreiben erfüllt. 1999 erhielt er für sein Stück Die Letzten den Stuttgarter Jungautorenpreis; 2003 gewann er mit Die Nacht der Nächte, Konzeptphase den Wettbewerb Drama Köln 2003. Sein Kurzstück Kill Willy kam im Januar 2008 als Teil der Deutschlandsaga an der Schaubühne am Lehniner Platz, Berlin, in die Endauswahl. Im Oktober 2005 war er Teilnehmer der Autoren-Werkstatttage am Burgtheater Wien sowie in der Saison 2006/07 Teilnehmer des Autorenlabors am Düsseldorfer Schauspielhaus.
Für den Rowohlt Theater Verlag hat John Birke u. a. die Stücke von Dennis Kelly sowie Pool (kein Wasser) und Shoot / Get Treasure / Repeat von Mark Ravenhill ins Deutsche übersetzt.
Seit 2006 arbeitet John Birke regelmäßig mit dem Performancekollektiv Electronic Music Theater zusammen.

Brezel Göring
Hat mit Francoise Cactus im Duo Stereo Total zahlreiche Alben veröffentlicht und live in ganz Europa, Nord- und Südamerika, Japan, China und Russland gespielt.
Daneben veröffentlichte er Soloschallplatten und Musik für Videospiele, Filme und Theaterstücke. Er spielte unter anderem zusammen mit Neoangin (der Band von Jim Avignon), Echokrank, Noisy Pig, P.U.F.F., Kommando Sonnenmilch, den Ärzten, dem Elbipolis Barockorchester Hamburg, Kahimi Karie, Hawnay Troof, Klaus Beyer, Wolfgang Müller und dem Oberkreuzberger Nasenflötenorchester, teilweise auf selbst erfundenen Musikinstrumenten. Hinzu kommen Kompositionen und Aufführungen für Theater wie Hebbel am Ufer, die Kölner Philharmonie und die Berliner Volksbühne. Ansonsten spielt er diverse Tasteninstrumente, Gitarre und Schlagzeug.
Außerdem produziert Göring Bands, betreibt das Label Verboten in Deutschland und vertont Stummfilme. Ende 2012 erschien sein Buch Unbehagen in der Mittelstufe mit „Schülertheaterstücken“.

Jonathan Granzow
Geboren 1987 in Bielefeld, studierte Jonathan Granzow zunachst Deutsch und Schulmusik in Frankfurt/Main. Darauf folgte ein Kompositionsstudium bei Prof. Gerhardt Muller-Hornbach und Prof. Ernst-August Klötzke. Neben einigen Ton- und Stummfilmmusiken widmet er sich in seinen Arbeiten dem Unterschied zwischen planvollem und intuitivem Musizierverhalten. Hierbei entstanden „Too BigBand to fail“ (2012) fur Big-Band, das Klaviertrio „Listen and repeat“ (2012) sowie „Wie ich Dir’s sage“ (2013) für Quintett, das im Rahmenprogramm der Donaueschinger Musiktage 2013 zur Aufführung kam. Im April 2012 eröffnete er zusammen mit der Pianistin Despina Apostolou-Hölscher die „Bibliothek des Vergessens“, eine Ausstellungsinstallation in der Goethe- Universität Frankfurt.
Als Arrangeur schuf Jonathan Granzow vielfältige Orchestrationen verschiedener Genres. Seine Orchesterfassung für den „Grand Tango“ von Astor Piazzolla und seine Orchesterversion des spotlight-Musicals „Elisabeth – Legende einer Heiligen“ erfreuen sich dabei besonderer Beliebtheit. Die Auftraggeber reichen von der Kammerphilharmonie Frankfurt über das Frankfurter Museumsorchester bis hin zum Popsänger Max Reimer.
Er ist Alumnus der Stiftung Polytechnische Gesellschaft und Mitglied der Frankfurter Gesellschaft fur Neue Musik sowie Mitglied des Frankfurter Tonkunstlerbundes.
Jonathan Granzow lebt in Frankfurt und ist freischaffend tätig als Komponist, Arrangeur, Lehrer für Musiktheorie, Chorleiter und Dirigent.

Das marburg jazz orchestra
Das marburgjazzorchestra* (mjo*) versteht sich als Plattform für begeisterte versierte Jazz-Amateure, Profis und Nachwuchstalente aus Hessen und Umgebung, die moderne Bigband-Literatur erarbeitet und konzertant präsentiert. Seit mittlerweile 8 Jahren veranstaltet die Bigband in wechselnder Besetzung mit neuem Repertoire und außergewöhnlichen Solisten Konzerte in ganz Deutschland. 2011 nahm das mjo* gemeinsam mit dem kanadischen Posaunisten Allen Jacobson eine CD unter dem Titel „big german band“ auf.

http://www.marburg-jazzorchestra.de

Jan-Philipp Possmann

ist Dramaturg und Kurator und lebt in Mannheim. Seit 2005 ist er als Dramaturg für internationale Performanceprojekte tätig, darunter mehrere Zusammenarbeiten mit Oliver Augst in Berlin und Frankfurt/Main, sowie als Hausdramaturg der Sophiensaele Berlin und Schauspieldramaturg am Nationaltheater Mannheim. Er kuratiert verschiedene Festivals, u.a. Plateaux (Mousonturm Frankfurt), Internationale Schillertage (Nationaltheater Mannheim) und Supercopy (Alte Feuerwache Mannheim). Seit 2012 arbeitet er überwiegend an der Schnittstelle von künstlerischer Praxis, Wissenschaft und politischer Bildung.

 

Presse
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Foto
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