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WINTERREISE / CD / 2020

Beim Hören der „Winterreise” von Augst & Daemgen
Von Frank Kämpfer

Wir sitzen erwartungsvoll im gut klimatisierten, intim ausgeleuchteten Kammertheater oder Kammermusiksaal in einer der vorderen Reihen, als ein von uns geschätzter Solist, d. h. ein Star der Musikindustrie, uns von der Seite her anlächelnd, zum glänzenden Steinway tritt. An diesem wird sein wachsammoderater Begleiter Platz nehmen. In wohlgeformten Vokalen wird sich der schöne Schauder romantischer Einsamkeit zu formulieren beginnen, um derentwillen wir das romantische Kunstlied verehren. Oh holde Kunst! Der gesungene Wandersmann dort, der so unglaublich friert und sich gedemütigt wähnt, das, gottseidank, bin niemals ich! – Ganz anders startet es hier aus der virtuellen Maschine, beim Download. Was via Handykopfhörer oder aus dem PC-Lautsprecher aufklingt wie ein Schlager, das ist nicht mehr Klassik. Das hat seine Schutzhaut verloren. Das hat emotions, das tritt zu nahe. Und der da die Gesänge „raushaut”, ist einer von uns, und wie wir scheint er auf sehr heutige Weise im Stress. Es tobt etwas heftig in ihm. Gleich in den ersten Beats hör’n wir sein Herz.

Klassische Textanalyse würde jetzt fragen: Wer ist wohl dieses „lyrische Ich”? Was ist sein Beweggrund, was hat es vor? Schon nach wenigen Songs sind wir überzeugt: Dieser rastlose, streunende, getriebene Fußgänger wandelt durch keine idyllische Landschaft – das Labyrinth, das er rastlos durchmisst, ist vielleicht noch nicht das Netz, aber wohl die pulsierende Stadt. Der Singende ist nicht darin geboren, er erinnert unscharf ja anderes – heute aber ist er urbanisiert. In der Metropole sozialisiert, d. h. mit einigen städtischen Wassern gewaschen. Er muss gar kein Stadtstreicher sein, kein Migrant oder Flüchtling – er könnte auch ein aus gutem Lohn und Brote Gestürzter oder ein Gemobbter sein. Nur eines ist klar: er, sofern er ein „er” ist, ist in allem, was ihm die Stadt zum Leben anbietet, nicht wirklich zu Haus.

Der Winter, der sein Bezugspunkt ist, kommt wahrscheinlich aus der Retorte. Schnee knirscht als Studioprodukt. Auch andere Bilder belebter Natur scheinen nie gegenwärtig zu sein. Er kennt Frühling und blühende Landschaft vielmehr aus dem Erinnern, als Sehnsucht, als Traum. Der da durch den Beton eilt, weiß den Rasen ganz blass, die Flüsse erstarrt und die Gletscher zersprungen, und er vermeint, nunmehr drei Sonnen am Himmel zu sehn. – Winterreisen durch Mitteleuropa sind heute etwas anderes als vor zweihundert Jahren. Wie lange noch, fragen wir uns, werden es Reisen durch kühlere Landstriche sein? Hätten jene Früheren gerne mit uns getauscht? Und wie konnte dieser jung verstorbene Wilhelm Müller bei der Beschreibung seiner eigenen Zeit, der beginnenden Dampfmaschinen-Epoche, so zielsicher heutige Gegenwart mitformulieren, die er doch schwerlich vorausahnen konnte? In jedem Fall scheint der in anderer Zeit geschriebene Text klüger und langlebiger als sein Autor zu sein.

Wie wäre es jetzt mit einem Werktreue-Disput? An manchen Stellen der Produktion, die im schalltoten Hörfunkstudio des Kölner Deutschlandfunks anfing, kommt der Singende, Oliver Augst, dem Kunstlied immerhin nahe. Franz Schubert wird dabei weniger in seiner Melodik als in seinem Duktus erinnert, d. h. wie ein Zeuge gerufen. Wären da nicht der Text und die weitgehend eingehaltene Ordnung der Titel, so wäre diese „Winterreise” des 21. Jahrhunderts von aller romantischen Wahrnehmung frei. Denn der zweite Akteur der Produktion, Marcel Daemgen an den Reglern und Tasten, hat den Zyklus anno 2020 vieler Schubertscher Phrasen und Harmonien entkernt und mit ganz anderen, härteren Klangwelten durchwirkt. Das elektroakustische Gewebe hat vielerlei Assoziationskraft: Es trägt das Gesungene, gibt ihm zeitgemäße (Hör)Theaterkulisse, imaginiert Gegenwart, Zukunft. Und es erinnert an schöne Natur, d. h. prä-industrielle Lebensumwelt, die man womöglich in Kürze nur mehr aus Lektüren erfährt, nicht aus aktuellem Erleben.

Natur „als das Universelle, von dem keiner sich ausschließen kann, das alle berührt und betrifft” (Röckel, Sinn und Form 4 / 19), – das große Sujet der Literatur des frühen 19. Jahrhunderts – ist dem, was hier eine Stunde lang tönt, bereits auffällig fern. Die synthetischen Beats, die in gänzlich anderen Produktions-Takten als jenen klassischer Konzerttempel schlagen, accompagnieren (idealer Weise via In-Ear-Lautsprecherpaar), was sich beim Durcheilen städtischen Alltags unweigerlich aufdrängt: Kraftfahrzeuglärm, Stau, Felder roter Ampeln (nicht Blumen). Wir sind gewissermaßen „auf unwirtbarem Wege” in der rush hour statt unter stattlichen Bäumen in gepflegten Alleen unterwegs. – Müllers Wanderer scheint ein höchst Unbehauster, einer der nirgends hinein kommt. Augst & Daemgens Stadtbewohner hingegen kann nicht mehr hinaus. Müllers Text formulierte diesen Alptraum einst „nur” als sozialen; als Gleichnis sozialen Ausgetoßenseins. Zweihundert Jahre später ist ein anderer Stand von Unbehaustsein erreicht; die Welt ist dabei, unbewohnbar zu werden; es gibt kein hinaus, und ein zurück gerad noch im Traum.

Verschiedene Titel der Platte oder Produktion suggerieren Zukünftiges auf exemplarische Weise. Verhandeln sie eigentlich (noch) eine Landschaft mit Menschen? Ist die besungene Welt noch bewohnbar? Songs wie etwa „Erstarrung”, „Die Krähe” oder „Die Nebensonnen” lassen tief zweifeln. In ihrer musikalisch-theatralischen Komplexität gehen sie radikal weiter als andere Tracks des 18-teiligen Sets oder Hörstücks. Das mag eine subjektive Wahrnehmung sein. In der Fantasie jedenfalls, die sich am Gehörten aufheizt, vergegenwärtigt sich vor dem inneren Auge eine Gruppe von Cyborgs, ungelenk in einer Art Tanz. Es ist der Winter der Maschinen – der, die oder das Singende ist nur mehr etwas Ferngesteuertes, d. h. ein Modul, ein Programm.

„Winterreise” ist die sechste Koproduktion von Oliver Augst & Marcel Daemgen (erste Jahre im Trio mit Christoph Korn) mit dem Kölner Deutschlandfunk. Seit fast 20 Jahren besichtigen sie deutsches Liedgut mit innovativen Augen und Ohren. Auf allen ihren Platten klopfen sie mit musikalischen Mitteln etwas frei, das schon vorhanden, aber bislang kaum wahrnehmbar war, und erst in heutigen Kontexten zutage zu treten vermag. Im Vergleich zu den Produktionen „An den deutschen Mond”, „Marx”, „Jugend”, „Arbeit Fassbinder Raben” und „Dein Lied” scheint mir „Winterreise” radikaler als alles zuvor – weil diese Produktion viel tiefer als nur ins Politische, Ideologische greift! Auch Vergegenwärtigungen anderer Komponisten – Reiner Bredemeyer, Mike Svoboda, Hans Zender – beanspruchten dies für sich. Der entscheidende Unterscheid besteht für mich darin, dass Augst & Daemgens elektroakustischer Kontrapunkt kein lediglich musikalischer ist, sondern vor allem inhaltlich ganz neue Horizonte aufstößt. Die Zeit wird kommen, hat der amerikanische Philosoph Timothy Morton vor einigen Jahren gesagt, wo wir uns bei jedem Text die Frage stellen müssen: Was sagt er über die Umwelt aus? Dieses akustische Hörtheater von Augst & Daemgen ist absolut auf der Höhe unserer bedrohlich-fahrlässigen Zeit.

Booklettext von Frank Kämpfer / DLF
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