OH ENDLESS IS THIS MISERY / 2023
Mitte der 1920er-Jahre kam es in den Ländern Asiens, Afrikas und Lateinamerikas zu einem Aufschwung antiimperialistischer Kämpfe. In China weitete sich der von der Nationalpartei Kuomintang geführte Befreiungskampf zur Revolution aus, und in Indonesien brach ein Aufstand gegen die niederländischen Kolonialherren aus. Während in Marokko der Widerstand der Rifkabylen von einer Übermacht französischer Truppen geschlagen wurde, flammte in Syrien eine Revolte gegen den französischen Kolonialismus auf. In Nicaragua führte César Augusto Sandino einen Guerillakrieg gegen die US-gestützte Regierung, und in Brasilien gipfelte eine Militärrevolte gegen das Regime der Großgrundbesitzer im legendären »Marsch der Kolonne Prestes«.
In dieser Situation ergriff der deutsche Kommunist Willi Münzenberg, dessen »Internationale Arbeiterhilfe« seit Jahren praktische Solidarität für Freiheitskämpfer in den unterdrückten Ländern leistete, die Initiative zu einer internationalen Konferenz der Kolonialgegner. Am Abend des 10. Februar 1927 begann die bis zum 15. Februar dauernde Konferenz im großen Saal des Palais Egmont in Brüssel.
»Es ist wichtig zu erkennen, dass die nationale Unabhängigkeit die erste Etappe auf dem Wege zur Unabhängigkeit der Menschheit überhaupt ist«, erklärte der französische Schriftsteller Henri Barbusse in seiner Eröffnungsrede.
Entschieden wandten sich die Konferenzteilnehmer gegen die auch von Teilen der Sozialdemokratie vertretenen Thesen von der »zivilisatorischen Mission« des Kolonialismus und der »Unreife« der unterdrückten Völker.
Der in das Ehrenpräsidium des Kongresses gewählte Physiknobelpreisträger Albert Einstein wandte sich in einem schriftlichen Grußwort gegen die Vorherrschaft weniger weißer Völker. Viele Teilnehmer schwärmten von der herzlichen, offenen und euphorischen Atmosphäre dieses »Völkerbundes von Brüssel«. Zu den Höhepunkten zählte die Verbrüderung von chinesischen und indischen Freiheitskämpfern mit britischen Sozialisten. In seiner Schlussrede zeigte sich Münzenberg zuversichtlich, dass die kommenden Jahrzehnte die Befreiung der kolonialen und halbkolonialen Länder bringen werden.
Das »Flammenzeichen vom Palais Egmont«, wie diese Gründungsversammlung der »Liga gegen Imperialismus und koloniale Unterdrückung« im veröffentlichten Protokoll betitelt wurde, war zugleich der Höhepunkt in der auf dem Papier zehnjährigen Geschichte dieser Organisation. Denn bald zeigte sich, dass die auf der Konferenz beschworene Einheit von Kommunisten, Sozialdemokraten, liberalen Intellektuellen und Nationalrevolutionären aus subjektiven und objektiven Gründen keinen dauerhaften Bestand haben konnte. Der Preis von Brüssel waren die weitreichenden inhaltlich-politischen Zugeständnisse, die die Kommunisten ihren bürgerlichen Bündnispartnern bei Ausblendung der unterschiedlichen Klasseninteressen gemacht hatten.
Der Kongress im Jahr 1929 in Frankfurt am Main wurde u. a. von den Kommunisten Karl August Wittfogel, Werner Jantschke und Robin Page Arnot organisiert. Schließlich waren nach offiziellen Angaben 124 Organisationen und 11 Ligasektionen aus 33 Ländern vertreten. Insgesamt nahmen 257 stimmberechtigte Mitglieder der Liga an dem Kongress teil, weitere 2-3000 Gäste sollen anwesend gewesen sein. Diese offiziellen Zahlen sind schwer zu überprüfen und tendenziell zu hoch angesetzt. Trotzdem belegen sie in überzeugender Weise, dass sich im Juli 1929 Antikolonialisten aus verschiedenen Weltteilen zu einem Kongress in Frankfurt trafen. Unter den Teilnehmern waren u. a. der spätere indonesische Außenminister Mohammed Hatta, George Padmore, James W. Ford, Sen Katayama, Garan, Tiemoko Kouyaté, Hansin Liau, Huang Ping, Shapurji Saklatvala und der spätere erste Präsident Kenias Jomo Kenyatta.
Eröffnet wurde der Kongress mit einer Festveranstaltung im Hippodrom (damalige Galopprennbahn Frankfurt). Dabei überreichten Soldaten des Generals Sandino dem Kongress feierlich eine eroberte blutige US-amerikanische Flagge. Fortgesetzt wurde das Treffen im Zoologischen Garten. Weitere informelle Treffen fanden im Restaurant „Heyland am Römerberg“ statt.
Die Liga verpflichtete die Mitgliederorganisationen zum »unbarmherzigen Kampf« gegen die Sozialdemokratie sowie zur Mobilisierung der »Arbeiter- und Bauernmassen unter dem Banner des revolutionären Kampfes gegen die Agenten des Imperialismus unter der einheimischen Bevölkerung«.
Diese Beschlüsse führten zum Austritt oder Ausschluss führender Ligarepräsentanten.
Wir wollen hier außer acht lassen, ob der Kongreß etwas repräsentiert, was in allen Ländern einer intensiven treibenden Kraft entspricht, ob eine organisierte allgemeine Aktion aus ihm erwachsen kann. Wir sehen in ihm heute ein Zeichen der Zeit: Ueber Nationen und Rassen hinweg sammeln sich Gleichgesinnte. Weiße, Schwarze, Gelbe, Braune protestieren gemeinsam. Sie protestieren im Namen der Völker, die in den Kolonien unter fremder Herrschaft leben. Sie protestieren gegen den Kapitalismus, der die Eingeborenen nicht zum vollen Ertrag ihrer Arbeit kommenlassen, mehr noch, der sie unter menschenunwürdigen Bedingungen zur Arbeit zwinge. Sie protestieren gegen den Imperialismus, der der wahre Schuldige sei an all dieser Unterdrückung, an all dem Mißbrauch des Volkes und der Völker.
Noch ist die Doktrin dieser antiimperialistischen Liga nicht von einem Zentralpunkt aus durchdacht. Es mischt sich in den Nationalismus der Kolonialvölker die Klassenkampftheorie, die bei den Weißen entstanden ist. Nun ist freilich auch der Nationalismus der Asiaten und Afrikaner zum guten Teil ein Einfuhrprodukt aus Europa. Die Sieger des Weltkrieges sehen das Selbstbestimmungsrecht der Völker, das sie in Europa verkannten, mißachteten, zertraten, nun über den Meeren als eine ihnen unwillkommene Staat aufgehen. Die Unabhängigkeitsbewegung der Kolonialvölker alter Kultur war auch ohne Marxismus vorauszuahnen. Sie wurde und wird von Klassen getragen, die keineswegs arbeitende Klassen sind. Nun aber greift seit einigen Jahren die radikale Arbeiterbewegung in jene Länder über. In China war sie ein Faktor des revolutionären Einheitskampfes. Aber sie ist nun unter die Füße der Generäle geraten, die vom Kommunismus oder Sozialismus wenig wissen wollen. So wird der chinesische Arbeiterradikalismus in eine Opposition gedrängt, die ihn mit dem Arbeiterradikalismus Europa verbindet. Wenn in diesem Sturme gegen den Imperialismus sehr verschiedene Motive und Ideen wehen, so ist das vielleicht nur umsomehr ein Zeichen der Zeit; die Warnung Asiens und Afrikas an Europa und das Amerika der Weißen. Das Zeichen will verstanden sein. Die Verständigen werden es sehen und hören, nur der Unverstand wird auf eine Machtposition vertrauen, die durch das Erwachen jener Völker langsam unterhöhlt wird. Das Zeichen verliert nichts von seiner Weltbedeutung, auch wenn die rote Fahne darüber flattert und es zu einer gar zu engen Parteisache machen möchte.
Frankfurter Zeitung, 22.07.1929: Kann der Frieden gesichert werden?
Zum anhaltenden Verdienst der Liga gehört, dass sie den Gesichtskreis vieler Führer nationaler Befreiungsbewegungen erweiterte und diese die Notwendigkeit des gemeinsamen Vorgehens aller antikolonialen Kräfte weltweit erkennen ließ.
Zwei Jahre später verboten die Nationalsozialisten die Liga und es kam zur Schließung ihres internationalen Sekretariats in Berlin
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