Exposé
M#TTER
GESELLSCHAFTSSPIEL VOLL SPANNUNG, ERREGUNG UND LOGIK, GRAUSAMKEIT UND WAHNSINN, ÄHNLICH DEN MÄRCHEN, DIE MAN KINDERN ERZÄHLT, IHR LEBEN ZUM TOD ERTRAGEN ZU HELFEN(AT)
Musiktheater
2022
Mit Liedern von Peer Raben mit Texten von Hans Magnus Enzensberger, Christian Friedrich Hebbel und Wolf Wondratschek um den sinnsuchenden Menschen...
Unter Verwendung von bisher unveröffentlichten Orchesterfragmenten, komponiert von Peer Raben.
Produktion: textXTND
Von:
Brezel Göring (Bühnentext, Regie, Sprache, Musik)
Mit:
marburgjazzorchestra* (Bigband)
Pascale Schiller (Moderation/Darstellerin)
Oliver Augst (Gesang/Darsteller)
Marcel Daemgen (Live-Elektronik, Sampling, Arrangements)
Christoph Klenner (Bigband-Leitung, Arrangements)
Petra Beck (Dramaturgie/Konzeption)
Gefördert vom Kulturamt Frankfurt (im Rahmen einer Mehrjahresförderung 2022/23)
Zeitraum: 14.-18. Juni 2022 / Gallus Theater Frankfurt
Die Aufführung wird zunächst für das Gallus Theater Frankfurt konzipiert. Als weitere Aufführungsorte sind die Waggonhalle in Marburg und der Schlachthof in Kassel angedacht.
Der "Mythos" der Künstlermutter als "Die Deutsche Mutter", "Mutterikone" aber auch als "Mitarbeiterin", Übersetzerin" "Darstellerin" und "Sekretärin" bis zur Rolle als "Hotel Mutter" wird beleuchtet. Zwischen den Polen der Mutter und ihrem Künstlersohn besteht ein reibungsvolles Wechselverhältnis, welches als Ausgangspunkt für eine theateralisch-musikalische Auseinandersetzung verstanden werden soll.
Briefstimme: Betreff, Anfrage zur Verwendung des Namens der von unserer Foundation repräsentierten Künstlerpersönlichkeit zur Thematisierung und Illustration eines theatralischen
Liederabendes
(Das Zeichen # wird groß projeziert, oder auf einem Schild hochgehalten.)
Werbestimme: Das Zeichen # taucht immer dann in japanischen Comics auf, wenn eine Explosion stattfindet. Heute abend werden wir es immer dann einblenden, wenn wir eine Information oder einen Namen übermitteln möchten, deren Verwendung für uns juristisch gefährlich werden könnte!
FORM
Personen:
KÜNSTLERSOHN #
DER CHOR DER SÖHNE (Pasolini, Warhol,.. )
DAS KIND
MUTTER
CHOR DER MÜTTER (Iokaste, Maria, Medea, Phädra)
Welten:
Sohn: Lieder von Peer Raben / Big Band / Großes Kino, Nebel, Show
MUTTER: Enges Interieur
Ohne Chronologie eines Handlungsablaufes die Geschichte zweier Personen, die sich aneinander abarbeiten. Die Welten scheinen getrennt, dabei sind die Personen in enger Verbindung. Sie sind Mutter und Sohn. Die Sehnsucht, jenseits dieser Rollen wahrgenommen zu werden, verbindet sie. Nähe und Distanz müssen verhandelt werden. Die Gesellschaft gibt Themen vor: Geld, Liebe, Sehnsucht, Politik, Qual, Ehrgeiz, Arbeit, Tod... Beide bringen Verbündete ihrer Positionen ins Spiel (DER CHOR DER SÖHNE, CHOR DER MÜTTER). Geschichte wiederholt sich. Mein Sohn! Meine Mutter! Sie spielen zusammen, und schaffen eine gemeinsame Person. Ein Kind aus einer anderen Zeit liest seine Gedichte an die Mutter. Die Mutter arbeitet an Texten und der Steuererklärung ihres Sohnes. Die Big Band spielt auf großer Bühne und gibt dem Abend seine Bildsprache – und seinen Sound.
AUSGANGSPUNKT / HINTERGRUND
„Erst das gesellschaftliche Ansprechen der Dinge macht sie zu Objekten des Mythos. (...) Der Mythos verwandelt ‚Wirklichkeit’ in einen ‚Stand der Aussage’.“
Roland Barthes
„Man kommt deshalb nicht an der vielleicht grausamen Schlussfolgerung vorbei, dass die Mutterliebe nur ein Gefühl und als solches wesentlich von Umständen abhängig ist.“
Elisabeth Badinter
Das Bild der Mutter entsteht singulär, idiosynkratisch: Die Mutter heiratet und liebt. Sie ist nicht nur Mutter, sondern auch Frau von.. Banal. Der Sohn hat sie nicht für sich allein. Ist allein, fühlt sich allein. Die Mutter will Großes für ihren Sohn, das Beste, das Größte. Um es zu erreichen, ist der Sohn auf sich gestellt. Er hat ihr Vertrauen, aber es kommt jetzt auf ihn an.
„Kann man sagen, mit der gesamten Welt wird um die Liebe dieser Mutter gerungen? Aber die Liebe soll nicht jetzt eintreten, sondern rückwirkend?“
Alexander Kluge
Alle Söhne haben eine Mutter, der Künstler hat mit ihr auch Material. Eine bestimmte Unruhe hält den Sohn am Laufen. Persönliche Beziehungen, Einsamkeit, Liebe, Tod, Sehnsucht, das Scheitern von Ehen. Die Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft und der Familie wird bei unserem Sohn häufig begleitet von der Perspektive eines Kindes, meist beklemmend schweigsam, ernst, unschuldig. Der Sohn verwendet Kindheit und Fremdheitserfahrung als Material, arbeitet quasi autoethnographisch. Wie bei den Autoethnograph:innen – beispielsweise Anni Ernaux, Didier Eribon, Edouard Louis – erzählt dieser Prozess der Abgrenzung, der zu einem Prozess der Entfremdung wird, immer auch historische Konstellationen und gesellschaftliche Zustände. Oft sind die Hauptfiguren bei dem Sohn Frauen, oft sind diese Frauenfiguren Selbstporträts.
Der Sohn erzählt aus dieser Perspektive immer wieder die Geschichte Deutschlands. Er erzählt von sich. Das schließt auch die Mutter ein. Es ist ein Schlüsselmoment seines Werks – und der öffentlichste in der Beziehung zu seiner Mutter. Der verlorene Sohn, der Verlassene, tritt als selbstreflektierter Despot gegenüber der Mutter auf. Der Sohn zwingt seine Mutter, die veralteten Institutionen zu repräsentieren, gegen die er rebelliert – und die er repliziert.
„Wenn ich sehe, was die anderen für Mütter haben – ich glaube, mit dir habe ich Glück gehabt.“
#
Die Mutter in der Kunst zu repräsentieren, ist keine leichte Aufgabe. Roland Barthes versucht nach dem Tod seiner Mutter ein Foto zu finden, das ihr gerecht wird, und erkennt sie doch immer nur bruchstückhaft. Bruchstückhaft taucht auch die Mutter immer wieder im Werk von # auf. Als Nachbarin, Kundin, Mieterin, Nonne und – immer wieder als Mutter.
Die eigene Mutter im Werk findet man auch bei Regisseuren wie Warhol und Almodovar und Pasolini.
Pasolini und # haben dabei erstaunliche Parallelen. Beide arbeiten sich der Geschichte ihres Landes ab und an der eigenen Geschichte und der Beziehung zur Mutter. Beide schreiben früh Gedichte an die Mutter. Beide verwenden ihre Mutter immer wieder in ihrem Werk. Pasolini, darin eben doch sehr italienisch, gleich als Mutter Gottes. Die Arbeit wird zum Scharnier der Beziehung von Mutter und Sohn, zur gegenseitigen Projektionsfläche.
Sie kommen sich nahe. Die Arbeit wird der Ausgangspunkt für ihre spätere Verklärung des Sohnes und zu ihrer Möglichkeit der Aneignung. Auch er eignet sie sich durch diese gemeinsame Arbeit an, benennt sie neu. Sie wird zu seinem Bild, seiner Darstellerin. Sie spricht, was er sagt, und wann und wie er will.
Zur Welt kommen, zur Sprache kommen: Sprechen heißt kämpfen
Das Miteinandersprechen von # und der Mutter ist von Beginn an ein Ringen, ein Kämpfen um Verständnis oder gleich Sprachlosigkeit. Der Sprachlosigkeit und dem gegenseitigen Unverständnis setzt # ein gemeinsames Arbeiten entgegen. Aber das Reden fällt schwer. Dabei haben Mutter # und # die gleiche Geschichte des Schweigens. In beiden Familien war es nicht üblich, dass Eltern und Kinder reden. Höflichkeitsfloskeln, Banales, Schweigen.
Und beide kämpfen mit der Realität des Anderen. Die Mutter hat ihre ganz eigene Sehnsucht für das Leben des Sohnes, nach Kohlrouladen und einem anständigen Beruf. Warum ist er kein Beamter? Ich will doch nur, dass es ihm gut geht. Fau und Kind. # lebt zeitlebens unbekümmert und offen schwul, ist dazwischen mal verheiratet, sucht sich früh seine Ersatzfamilie (wieder), schafft seinen Clan. Er bezieht die Kraft für sein Schaffen aus dieser Gegenbewegung.
Punctum:
M#tter, Übersetzerin
Themen der Mutter: eigenständige intellektuelle Arbeit, Abhängigkeiten von Männern und „Kein Mensch begegnete mir mehr als mir selber. Ich fühlte mich gar nicht mehr wahrgenommen, weil ich überall als #s Mutter auftreten musste.“
Du bist die einzige auf der Welt, die von meinem Herzen weiß Was immer gewesen ist, vor jeder anderen Liebe.
Deshalb muss ich dir sagen, was grausam ist zu wissen:
Es ist deine Gnade, in der meine Angst entsteht.
Du bist unersetzbar: Deshalb ist das Leben,
Das du mir gegeben hast, verdammt zur Einsamkeit.
Und ich will nicht allein sein. Ich habe einen unendlichen Hunger
Nach Liebe, nach der Liebe von Körpern ohne Seele,
Denn die Seele ist in Dir, bist Du, aber Du
Bist meine Mutter und Deine Liebe ist meine Sklaverei.
Pier Paolo Pasolini
Wer? |
#// |
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Mutter im Film |
Mutter |
Was? |
Welt der Bühne |
Ausschnitte/ Samples aus |
MUTTER in der |
|
Wie? |
Big Band |
gegenseitige |
Leise, einsamer enger |
PEER RABEN
Bevor Peer Raben mit dem Komponieren von Filmmusik begonnen hatte, war er Schauspieler, Regisseur, Kameramann, Bühnen- und Kostümbildner. Er kannte alle Positionen des Theater- und Filmemachens und konnte von jeder dieser Positionen die jeweils anderen verstehen und mitdenken. Er war kein akademisch ausgebildeter Regisseur, Bühnenbildner oder Komponist. Er war als Quereinsteiger Teil der „#truppe“ und blieb doch als Musiker autonom und unvergessen. Einer, der aus praktischen Erwägungen in direkter Abstimmung mit dem Ensemble seine Entscheidungen fällte. Diese Arbeitsweise ist der von textXTND sehr ähnlich. Insofern betrachtet textXTND Raben als einen Verwandten, von dessen Musik berührt und geradezu auffordert, eine zeitgemäße und subjektive Position dazu einzunehmen.
Lieder wie z.B. "I kill them" (aus "Whity"), "Believe in Fantasy" oder das von Johannes Brahms "Guten Abend, gute Nacht" abgewandelte "Good Evening" (aus: "Warnung vor einer heiligen Nutte") haben für textXTND einen ganzen besonderen Reiz, da hier die für Peer Raben so charakteristische Genre- und Kulturüberschreitung zwischen deutscher Liedkultur, amerikanischen Stilelementen (Jonny Cash) und dem wiederum so deutsch nüchternen, im Grunde etwas steif wirkenden Gestus von Unterhaltungs-Orchestermusik besonders deutlich wird.
Ähnliches gilt auch für seine Instrumentalminiaturen wie z. B.: "Voice from the Mountain", "Walk in the Forest" (aus: "Götter der Pest"), "It doesn't go together" oder "Horseman in the Dark" (aus: "Whity"), in denen die Vermischung musikalischer Elemente aus Barock, Flamenco und mexikanischer Musik in eine beinahe sentimentale Italo-Westernromantik gleiten. Die Musik bleibt jedoch dabei so nüchtern, trocken, ja kammermusikalisch streng und harmonisch ganz untypisch, dass eine große Distanz gegenüber der Filmmusik z. B. eines Ennio Morricone deutlich wird.
Es liegen also bereits subjektive Bearbeitungen mehrerer Genres durch Peer Raben vor. Dieser Strang soll aufgegriffen und fortgesponnen werden.
Für textXTND bilden wesentliche Grundlagen der Liedbearbeitungen elektronische Klangerzeuger. Im Zentrum steht der Computer. Von diesem elektronischen "Zentralgehirn" ausgehend werden die zuvor generierten oder gefundenen Klänge verarbeitet und organisiert. Es werden aber auch die für Peer Raben typischen Orchester-Arrangements aufgegriffen und auf den Klangkörper des mjo* übertragen.
Hier kommt der Komponist und Arrangeur Christoph Klenner ins Spiel, der die klangliche Vorarbeit in Partitur-Form überträgt und dazu seine eigenen musikalischen Vorstellungen und Ideen mit einbringt.
textXTND / MJO*
Es geht bei textXTND und dem mjo* um das Spiel mit musiktheatralischen Formen und Gestalten, um ein Jonglieren und Experimentieren mit Klängen, die alles akustisch Verfügbare einschließen. Damit stoßen die Künstler auf unbekanntes Terrain vor und spinnen mit einem Mix aus Sprache, Komposition, Arrangement und Improvisation inhaltliche Fäden, die sie miteinander verflechten oder nebeneinander herlaufen lassen, die sie verdichten oder ausdünnen und auf unterschiedlichste Weise zu heterogen komplexen Strukturen zusammenfügen.
Das Arbeiten der Künstler vollzieht sich sowohl individuell als auch im Kollektiv, im Spagat der Kommunikation zwischen künstlerischen (Einzel-)Persönlichkeiten und einem Großensemble. Zwischen diesem und dem inter-subjektiven Zusammenspiel der Individuen entsteht die eigentliche Form des Musiktheaters. Die Künstler entwickeln einen Modus, bei dem die individuelle Auseinandersetzung mit dem Material und die je eigene Produktion von musikalischen- und/oder szenischen Bestandteilen ganz bewusst von den gemeinsamen Prozessen separiert ist und zugleich das jeweils Individuelle im Kollektiv zusammengebracht wird, allerdings ohne es zwanghaft zu synthetisieren.
textXTND verortet seine Klangarbeiten in der „neuen elektronischen Musik“ oder „new electronica“ genannten nicht-akademischen zeitgenössischen Musik und entwickelt darin eine vollkommen eigenständige Position. Es ist das Feld der Geräusche, ein akustisches Gebiet, das sich, anders als die klassischen Töne, einer Systematisierbarkeit weitgehend entzieht. Elektronische Störgeräusche werden exzessiv oder ausschließlich verwendet, Knistern, Knacken und Rauschen, auch Umweltaufnahmen, die manipulativen Prozessen unterzogen werden, schließlich synthetisiertes oder durch Instrumente erzeugtes Klangmaterial. Die Musiker arbeiten vor allem mit elektronischen Geräten. Eine besondere Stellung nimmt das Mischpult ein, das nicht als Regelgerät, sondern als Musikinstrument Einsatz findet. Durch Rückkopplungsschaltungen mutiert es zum Klangerzeuger.
Den Projekten von textXTND haftet immer ein gesellschaftspolitischer Impetus an, nicht jedoch im Sinne von Agitprop. Es ist vielmehr ein mit aktuellen künstlerischen Mitteln geformter Blick, den sie in einer gemeinschaftlichen Aktion, man könnte fast sagen, Diskussion auf die heutige Lebenswelt werfen.
DIE BEARBEITUNG VON PEER RABENS-LIEDERN FÜR DAS MJO* BEI CHRISTOPH KLENNER
Peer Rabens Musik inspiriert mich als Komponisten durch seine sehr individuelle Klangsprache. Außergewöhnliche Melodien, die ihren ganz eigenen Pfad verfolgen und sich einem steten Spiel zwischen melodiöser Einfachheit und einer reizenden und fordernden Unvorhersehbarkeit bedienen.
Die große Bandbreite der Kompositionen, die von Chansons bis hin zu großen Orchesterwerken reichen, bilden eine, nicht enden wollende Inspirationsquelle.
Beim Studium der Partituren Peer Rabens lernt man als Komponist und Arrangeur sehr viel über die Themen Orchestration und Instrumentation.
Peer Raben geht seinen ganz eigenen musikalischen Weg. Eine Eigenschaft, in der ich mich als Jazzmusiker sehr gut wiederfinden kann. Individualität und Authentizität sind die große Vision der künstlerischen Entwicklung eines Jazzmusikers. Besonders als junger Musiker kann man sich Peer Rabens musikalische Unerschrockenheit und seinen ganz eigenen Weg und Zugang zur Musik zum Vorbild nehmen.
Peer Rabens Musik ist frei. Sie folgt keinen fremdauferlegten Regeln. Raben war als kompositorischer Quereinsteiger gezwungen, in der Situation improvisieren zu müssen.
Improvisation ist ein zentraler Grundstein des Jazz/Freejazz.
Für mich bedeutet die Arbeit und der Umgang mit dem für mich doch recht negativ aufgeladenen Begriff Disco ein Ablegen von Vorurteilen und ein Erforschen des Unbekannten. Ich muss improvisieren und mich - wie Peer Raben zu seinen musikalischen Anfängen - in mir unbekannte Gefilde begeben. Ein Reiz, der mir wie ein großer Katalysator für schier endlose Kreativität erscheint.
Meine Kompositionen finden Ihren Ursprung in der Musik selber. Ich arbeite ausgehend von musikalischen „Keimzellen“. Damit können kleinste melodische, harmonische, rhythmische, klangliche Elemente, die etwas in mir bewirken, gemeint sein. Ich suche und finde also in einem vorgegebenen Material nach etwas, das mein Interesse weckt. Das „vorgegebene Material“ kann von mir selbst stammen oder aber von einem/r anderen Künstler/in geschaffen sein. Es ist für mich die Authentizität des Werks – egal welchen Genres und welcher Stilistik – die entscheidend ist, ob ich mich für die Musik interessiere. Ich suche in der Musik nach etwas, das in seinem Wesenskern etwas Ursprüngliches und sehr Ehrliches hat. Wenn ich das in der Musik spüre, wird sie dadurch für mich zu einem sehr starken Ausdrucksmittel, das mit uns als Zuhörer auf sehr individuellen Wegen kommunizieren kann und dem Worte allein niemals gerecht werden würde. Darüber hinaus bereitet es mir große Freude und verschafft mir einen noch näheren Zugang zur Musik, mich mit der Biografie des/der Künstlers/in zu beschäftigen. Das kann im direkten Gespräch mit der schaffenden Person geschehen oder aber auch das Lesen einer Biografie sein.
Als Nächstes betreibe ich mit den Keimzellen eine intensive Materialkunde. Ich beleuchte das Material in unterschiedlichstem Licht und versuche, möglichst emotionsfrei und ohne Wertung viele Möglichkeiten mit dem Material zu komponieren/arrangieren kennenzulernen. Dieser Prozess der Materialkunde ist zeitlich lediglich durch die doch meist vorhandene Deadline des jeweiligen Projekts begrenzt. Es kommt also gezwungenermaßen zu dem Punkt, dass ich erste konkrete Entscheidungen für das zu komponierende/arrangierende Werk treffen muss. Ich sichte meine Materialsammlung und lasse mich emotional auf jeden der entdeckten Wege ein, um eine Entscheidung zu treffen, in welche Richtung das Werk gehen soll.
Im darauffolgenden Schaffensprozess einer Komposition/Arrangement ist es für mich wichtig, mir ein musikalisches Korsett umzuschnallen. Dieses entspricht dem Weg, für den ich mich aus der Materialsammlung entschieden habe. Dabei schreibe ich mir Regeln vor, die z. B. ein bestimmtes Tonmaterial einer Tonleiter, eine bestimmte Intervallstruktur und/oder rhythmische Vorgaben sein können, mit denen ich arbeite. Nur indem ich mir einen Rahmen (Regeln) schaffe, kann ich das größte Potenzial aus dem vorgegebenen Material schöpfen und bleibe zielgerichtet. Ich schränke mich also im Vorfeld des konkreten Schaffensprozesses ein und treffe grundlegende musikalische Entscheidungen, um aussagekräftiger, fokussierter und im Kern des Materials konzentrierter sein zu können.
Ich versuche, bei meiner Arbeit stets eine Authentizität zu bewahren und mit dem, was ich schreibe, einer größeren musikalischen Idee zu dienen. Ich möchte mit meiner Musik mit den Musikern/innen und dem Publikum in einen Dialog treten können und brauche daher eine Essenz, eine Kernaussage, die ihre Aufmerksamkeit weckt und am Geschehen der Musik teilhaben und mitbestimmen lässt. Diesen Kontakt zum/r Zuhörer/in – seien es die Musiker/innen oder das Publikum - aufzubauen halte ich für sehr wichtig, weil die Musik für sich alleine auf dem Papier, ohne gespielt, gehört und erlebt zu werden, tot ist. Erst durch die Musiker/innen und das Publikum und die ganz individuellen Hörerlebnisse jedes/r einzelnen Zuhörers/in erwacht das Geschriebene zum Leben und bekommt eine Bedeutung und kann etwas in uns bewegen. Stilistisch bin ich grundsätzlich nicht festgelegt. Ich habe jedoch meine musikalischen Wurzeln im Jazz, improvisierter Musik und der klassischen Musiktradition.
Auf technischer Ebene bedeutet dieser Arbeitsprozess, dass ich mit meinen Instrumenten Saxofon, Klavier, Klarinette, Querflöte arbeite und das Entdeckte mit Bleistift und Papier in Form von Noten, Skizzen und Wörtern aufschreibe. Das blanko Notenpapier erstelle ich mir dabei über das Notationsprogramm Sibelius selber. Meistens arbeite ich bei der Materialkunde mit A3 Papier mit 20 Systemen im Querformat. Wenn ich daraufhin in die konkrete Ausarbeitung des Werks gehe, arbeite ich mit ebenfalls selbst erstellten blanko Partituren des jeweiligen Klangkörpers (z. B. Bigband oder Orchester). Der Computer und das Notationsprogramm kommen erst wieder zur Fertigstellung des Werks zum Einsatz. Ich gebe das fertige, handgeschriebene Werk in das Notationsprogramm ein. Sobald das Werk über Midi-Sounds des Notationsprogramms vom Computer wiedergegeben werden kann, höre, denke und fühle ich das Werk einmal in Echtzeit durch. Das hilft mir, die konkreten zeitlichen Dimensionen besser wahrzunehmen, und ich erkenne, ob alles so sein wird, wie ich es während des Schaffensprozesses im inneren Ohr gehört habe. Als letzten Schritt erstelle ich mit dem Notationsprogramm die Einzelstimmen für die Musiker.
Der Schritt des Layouts für Partitur und Einzelstimmen ist nicht zu unterschätzen, da sich jede Unklarheit und Ungereimtheit unmittelbar auf die Probenarbeit mit dem jeweiligen Ensemble auswirkt. Unter einem schlechten Layout kann die Probenzeit, die Konzentration und die Motivation der Beteiligten enorm leiden.
DAS marburgjazzorchestra* UND PEER RABENS OEUVRE
Freiheit und Struktur. Sich nicht an Strukturen halten, aber vorhandene Strukturen nutzen - wenn es der Sache - der Musik - dienlich ist. So versteht das mjo* Peer Rabens Musik. Jeder im Ensemble findet seinen ganz eigenen Zugang. Tut sich schwer, spricht mit anderen darüber, versucht einen anderen Weg. Freiheit. In der musikalischen Arbeit hat und werden diese Erfahrungen in eine Struktur gegossen.
War es für Peer Raben in seiner künstlerischen Arbeit Alltag, viele Rollen zu übernehmen - Schauspieler, Musiker - so übernehmen innerhalb des mjo*s immer wieder andere Personen eine Rolle: als Solist, als Leiter, als Organisator. Ohne diese Freiheit, aber auch die Verbindlichkeit in der Struktur wäre eine solche Arbeit nicht möglich. Das Verhältnis des Einzelnen zur Gruppe wird mit Freude immer wieder neu verortet.
Sich stilistisch nicht festlegen, aber immer mit Haltung an eine Sache herangehen. Das ist ein Grundsatz, der das mjo* mit Peer Raben eint.
Wie bei Peer Rabens kompositorischem Schaffen stand am Anfang des marburgjazzorchestra*s eine Idee. Wir haben einfach gemacht, die Dinge waren etwas hölzern und einfacher, aber immer mit Haltung und einer Idee.
Jedes Ensemblemitglied ist musikalisch anders sozialisiert, sie eint aber eine langjährige gemeinsame Zusammenarbeit. Das mjo* profitiert von den Vorarbeiten von Augst & Daemgen sowie auch von Peer Raben.
BIOGRAFIEN
Pascale Schiller
Schauspielerin
geb. in Frankreich
1992 - 1998 Studium der Theaterwissenschaften und Literatur Paris X - Nanterre
2007 Beste Schauspielerin Festival Internacional de Ciné de Las Palmas für "Die Unerzogenen"
Filme (Auswahl):
Geschwister, D / A 2016, Drama (110 Min.)
Diese Nacht, P / D / F 2008 (Nuit de chien), Literaturverfilmung (117 Min.)
Die Unerzogenen, D 2007, Drama (90 Min.)
Zusammenarbeit u.a. mit Werner Schroeter und Claude Berri
Oliver Augst
Paris, Frankfurt, Ludwigshafen am Rhein
Musik-, Hörspiel- und Bühnenproduktionen, verschiedene Ensembles, internationale Konzerttätigkeit.
"Frankfurts zentraler Künstler im experimentellen Grenzbereich von Musik, Hörspiel, Literatur und Theater." (M. Pees, Mousonturm)
"He is a musician that is crossing real boundaries. If you haven't heard of him, it's because he's crossed a boundary that matters." (Downtown NYC)
http://de.wikipedia.org/wiki/Oliver_Augst
www.textxtnd.de
www.augst-carl-korn.de
www.augstundbeck.de
www.freundschaft-music.net
www.volksliedmaschine.de
Marcel Daemgen
geb. 1965, seit 1989 freischaffender Komponist, Produzent und Live-Musiker in den Bereichen Elektronik- Noise- und Popmusik. Er studierte Musikpädagogik an der Johann Wolfgang Goethe Universität und Tontechnik an der School of Audio Engineering (SAE) in Frankfurt am Main.
Seit den frühen 90iger Jahren trat er mit zahlreichen Projekten in Erscheinung, u.a. mit dem EMT/ Electronic Music Theater (u.a. mit Augst/Birke/Daemgen/Ehinger/Fehér/Kretzschmar), der Technoise Band FREUNDSCHAFT (Augst/Beck/Cobra/Daemgen), den TänzerInnen Christine Bürkle, Nik Haffner, und Stephen Galloway, mit Alfred 23 Harth, dem Komponisten Thomas Pernes, Keiji Heino, Schorsch Kamerun, Raymond Pettibon und ARBEIT (Augst/Daemgen/Reiß). Live-Aufführungen im Künstlerhaus Mousonturm/Frankfurt (Main), beim 'Forum neuer Musik'/ Deutschlandfunk-Sendesaal/Köln, in Fylkingen/Zentrum für Neue Musik/Stockholm, in der Knitting Factory/New York City, im Theatre des Amandiers/Paris, im Künstlerhaus-Wien/'Wien Modern', bei der 'Ars Electronica'/Linz/Österreich, beim Akut-Festival/Mainz, beim Zdarzenia- Festival/Tczew/Polen, beim Jazz Festival 'San Juan Evangelista'/Madrid/Spanien und dem Festival 'Politik im freien Theater'/Sophiensaele/Berlin, im Brucknerhaus/Linz, im FFT/Düsseldorf, Dom, Moskau
Zahlreiche CD Veröffentlichungen, u.a. mit ARBEIT, FREUNDSCHAFT und Alfred 23 Harth. Auftragsmusik für Ballett und Theater, u.a. für das TAT/Frankfurter Ballett (unter W. Forsythe) und die Alte Oper Frankfurt, die Bregenzer Festspiele und die Ruhrfestspiele Recklinghausen
Filmmusik, u.a. für 'Winterspruch' von Oliver Hardt und Peter Rippl (Hessischer Filmpreis 1999), und 'Schattengrenze' von Gunter Deller (Hessischer Filmpreis 2000)
Er lebt und arbeitet in Offenbach und Frankfurt am Main.
Petra Beck
ist Europäische Ethnologin und Kulturanthropologin. Sie hat mehrere Jahre im Bereich Film gearbeitet und anschließend Europäische Ethnologie und Gender Studies an der Humboldt Universität zu Berlin studiert.
Ihre Forschungsinteressen sind Material Culture Studies, Visuelle Anthropologie, (Materielle) Erinnerungskulturen, Kulturen des Austauschs, Netzwerke (von Dingen), Dingräume und Mensch-Umwelt-Beziehungen. Ihre aktuelle Forschung untersucht Mensch-Ding-Beziehungen im urbanen Kontext, Mensch-Ding-Umwelten und Dingräume, wie z. B. Selfstorage-Häuser.
Als visuelle Anthropologin war sie in den letzten Jahren an mehreren künstlerischen Projekten beteiligt.
Ihre Arbeiten zu Dingräumen wurden u.a. in Deutschlandfunk, Ö1, Bayern1, taz und FAS besprochen.
www.restopia.info
Brezel Göring
ist Musiker, Produzent und Autor.
Mit Stereo Total hat er zahlreiche Alben veröffentlicht und live in ganz Europa, Nord- und Südamerika, Japan, China und Russland gespielt.
Daneben veröffentlicht Göring Soloschallplatten und Musik für Videospiele, Filme und Theaterstücke (u. a. für das Theater Hebbel am Ufer, die Volksbühne Berlin und die Kölner Philharmonie). Außerdem betreibt er das Label „Verboten in Deutschland“ und vertont Stummfilme. 2012 erschien sein Buch Unbehagen in der Mittelstufe mit „Schülertheaterstücken“ im Schmitz Verlag.
Christoph Klenner
studierte Jazzsaxophon am Conservatorium Maastricht und Jazzkomposition an der Hochschule Osnabrück und absolviert momentan ein Masterstudium im Fach Komposition an der Folkwang Universität der Künste in Essen.
In seinen beiden Ensembles SUND (Trio) und ISTHMUS (Tentett) wirkt Christoph als Instrumentalist und Komponist. Darüber hinaus bilden Auftragskompositionen für Big Bands, Saxophonquartette und kammermusikalische Ensembles einen zweiten Schwerpunkt seines musikalischen Schaffens.
Zusammen mit der Band Grönheit gewann Christoph 2015 den StudyUp Award Jazz. Christoph Klenner hat mit seiner Komposition „Salix“ mit Erfolg am BuJazzO Kompositionswettbewerb 2016 teilgenommen und wurde in das BuJazzO-Programm “Zukunftsmusik” aufgenommen. 2017 folgte mit seiner Big-Band-Komposition „Meltdown“ eine Einladung zum Finale des europäischen Kompositionswettbewerbs „Jazz Comp Graz“, wo er an Workshops unter der Leitung von Michael Abene, John Hollenbeck und Jörg Achim Keller teilnahm. Die Komposition „Meltdown“ wurde daraufhin auf der CD „Jazz Comp Graz 2017 – Klang Debüts Kunst Uni Graz“ veröffentlicht.
Das erste Album des Ensembles Christoph Klenner ISTHMUS ist im Oktober 2018 veröffentlicht worden.
www.christophklenner.com
Das marburgjazzorchestra*
Freiheit und Struktur.
2006 von large ensemble-Enthusiasten gegründet versteht sich das mjo als modernder Klangkörper mit Fokus auf zeitgenössischen Jazz und artverwandtes ohne Scheuklappen. Die Struktur ist Bigband, die künstlerische Freiheit unbegrenzt.
Von Beginn an arbeitete die Bigband projektbezogen und ohne festes Repertoire, dabei immer auf der Suche nach Neuem und wenig Gespieltem. Der Fokus der künstlerischen Arbeit liegt auf dem europäischen Jazz der Gegenwart.
Es gibt keine festen Leitungsstrukturen in der künstlerischen Arbeit, das Ensemble arbeitet projektbezogen, vergibt Leitungsaufgaben innerhalb der Arbeit an Mitglieder und arbeitet mit Gastsolisten zusammen. So haben auf Einladung unter anderem Allen Jacobson, Niels Klein, Detlef Landeck und German Marstatt mit dem Ensemble gearbeitet.
Das Ensemble versteht sich als professionell arbeitendes Jazzensemble in der hessischen Jazzprovinz. Die nächste Musikhochschule ist 100 Kilometer entfernt. Das schafft Freiheiten, muss aber auch ohne die Strukturen im Hintergrund auskommen.
Das marburgjazzorchestra* arbeitet an Strukturen. Wir vermitteln Workshops an Schulen, suchen bewusst nach jungen Musikerinnen.
Akademisch oder nicht-akademisch Jazz machen? Wir nehmen uns die Freiheit uns dieser dualistischen Struktur zu entziehen und diese Frage für uns nicht zu beantworten. Wir machen Musik.
Wir finden unsere Projekte durch Ideen der Mitglieder, im Dialog miteinander. Künstlerische Entscheidungen müssen vom gesamten Ensemble mitgetragen werden.
Seit 2008 trägt ein eingetragener, gemeinnütziger Verein die Arbeit des Ensembles.
Mitglieder des Ensembles treten als Arrangeure, Komponisten und Musikalische Leiter für das Ensemble auf. Sie verlassen ihren Platz im Ensemble und übernehmen die Leitung des Klangkörpers - um sich danach wieder in das Kollektiv einzupassen.
Wir nehmen uns die Freiheit, als Ensemble „Nein“ zu sagen: keine Marktplatzgigs oder Ehrungen der Jubilare. Wir entziehen uns ein Stück weit den Strukturen.
Ein Ensemble, dessen oberste Prämisse die Freiwilligkeit ist, kann nur funktionieren, wenn die Strukturen transparent sind.
2012 veröffentlichte das Ensemble unter der Leitung des Kanadiers Allen Jacobson die CD „Big German Band“ mit Musik junger deutschsprachiger Komponisten.
„Stilistische Vielfalt, ein Hang zur Klangmalerei und große Dynamik“ Mainspitze 2008
„Moderner Big Band Sound als konzertant dargebotene Klangfantasie mit orchestralem Anspruch“ Rüsselsheimer Echo 2010
„Die klassische Besetzung um Bandleader und Posaunist Allen Jacobson markierte mit junger deutscher Bigband Literatur den musikalischen Höhepunkt des Festivals „Allgemeine Zeitung Mainz 2011
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Für die Verwendung von Orchesterfragmenten, komponiert von Peer Raben, liegt eine freundliche Genehmigung von Eckart Rahn E.R.P. Musikverlag Berlin vor.