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JUGEND / 2005

JUGEND
Volume 1: Freud

electronic music theater
von Hanno Ehrler (br, DLF, Musiktexte, nzm ...)

"Die von Sigmund Freud entdeckte Sprache des Unbewußten hat die Sprachfähigkeit beziehungsweise den uns zur Verfügung stehenden Sprachausdruck um eine unklare, stets ambivalente, sich sprunghaft bewegende, weniger semantische als semiotische Dimension erweitert. Ein Bereich, der kaum der kalkulierten Interpretation zugänglich ist, weniger konkrete Bedeutung generiert, als sich überlagernde Bedeutungsschichten, die mannigfach sich mit anderen Sinn- und Unsinnpartikeln verbinden und Texturen erzeugen, die ähnlich vage bleiben, wie die Sprache des Klangs", schreibt die Künstlergruppe Oliver Augst, Marcel Daemgen und Christoph Korn zu ihrem Projekt "Jugend". Was die Musiker hier zum Wesen des Unbewußten sagen, hat starke Affinitäten zur eigenen musikalischen Arbeitsweise. Sprunghaft und ambivalent präsentiert sich das Material. Durch collagehafte Schichtung und Montage entstehen komplexe Texturen. Sie scheinen nach mehreren Seiten hin offen zu sein und auch zu bleiben, da eine einmal begonnene Auseinandersetzung mit Texten und Musik zu einem Thema ständig weitergeführt wird, ein work in progress ist. Dieser Phänotyp von Musik prägt auch das Projekt "Jugend".

Mit dem Begriff "Jugend" verbindet die Frankfurter Künstlergruppe das "Unverbrauchte", das jugendlich revoltierende Erkennen, den Topos intellektueller, geistiger Revolution. Projiziert wird das auf das Individuum, auf private Kommunikationssituationen und auf zentrale Emotionen und Erfahrungen wie Erinnerung, Trauer oder Tod. Konkret haben die Musiker das Thema zunächst an dem von Sigmund Freud entwickelten psychoanalytischen Zweiergespräch verankert, weshalb die Performance "Volume 01: Freud" heißt. Texte von Freud und anderen Autoren dienen als Quellen. Dazu assoziiert die Künstlergruppe Liedgut der Romantik von Brahms, Mahler, Wagner, Wolf und Schubert, daneben einige Schlager, unter anderem von Udo Jürgens, die als modifizierte Fortschreibung des Romantischen in die Gegenwart gelesen werden können.

Die Text- und Musikstücke betrachten die Musiker als "Archiv". Es enthält Sprach- und Klangbestandteile, die sie in Bibliotheken, auf digitalen Speichermedien und in ihren persönlichen Erinnerungen gefunden haben. Jeder der drei Performer, und auch der österreichische Musiker Thomas Dészy, der bereits beim vorausgegangenen Projekt "Marx" mitwirkte, eignet sich diese Bestandteile ganz individuell an, bearbeitet, verzerrt, fragmentiert oder kommentiert sie. Daraus entsteht bei jedem Musiker ein Pool von Materialbruchstücken, der abrufbereit im Sampler liegt oder ganz konventionell von Papier und Notenblättern gelesen und gesungen wird.

Solche Bestandteile können zitatähnliche Fragmente sein, ein Lied, ein Ausschnitt einer Textaufnahme oder instrumentale Phrasen, die Fasern des musikalischen Gewebes bilden. Meistens erscheinen sie nicht original, sondern mehr oder weniger manipuliert, wenn etwa durchs Megaphon gesungen wird oder ein Zitat durch Lautstärkeregelung im Hintergrund des Klingenden schwebt. Andere Bestandteile entstehen durch teils extreme elektronische Verzerrungen. Sie kippen oft ganz ins Geräusch, das ohnehin einen bedeutenden Teil des akustischen Panoramas ausmacht. Die Musiker arbeiten mit E-Gitarren, Synthesizern und etlichen anderen elektronischen Geräten. Eine besondere Stellung nimmt das Mischpult ein. Es wird nicht als Regelgerät verwendet, sondern als Musikinstrument. Durch Rückkopplungsschaltungen machen die Musiker es zum Klangerzeuger, der eine große Vielfalt an Geräuschen wie Zischen, Knistern, Brummen und Pfeifen generiert, Sounds, die normalerweise als Störgeräusche empfunden werden. Hier erscheinen sie als Elemente von Musik. Sie bilden Hügel und Täler, Einschnitte und Markierungen der Klanglandschaft und sind nicht selten sogar die Folie des Ganzen.

Die Klangcharakteristik der Performance entfaltet sich zwischen diesen beiden Polen, einerseits den mehr oder weniger zitierend eingebrachten, vertraut wirkenden Elementen und andererseits den extrem geräuschigen Sounds, die auch zum Fundament der musikalischen Architektur beitragen, wenn etwa ein Rhythmus mit Knacken aus dem Mischpult erzeugt wird.
Die von jedem Musiker selbständig erarbeiteten Bestandteile des Material-Pools bilden die Grundlage der Improvisation auf der Bühne. Sie werden im live-Kontext frei interagiert. Keine Regeln oder Absprachen bestimmen die Abfolge des Geschehens, keine Begrenzungen schränken die Phantasie der Improvisierenden ein. Unbestimmtheiten und Unsicherheiten gehören zum Konzept, ebenso die dramaturgische Offenheit des Ganzen. So kann es geschehen, daß der musikalische Fluß quasi zusammenbricht und an einem Nullpunkt angelangt. Dieser muß dann nicht zwanghaft mit Material gefüllt werden, im Gegenteil. Durch das Aushalten, ja Auskosten des Nichts generiert die Gruppe eine ganz eigentümliche Spannung.
"Electronic music theatre" nennen die Musiker ihre Form des Musizierens/Improvisierens auf der Bühne. Der Begriff beschreibt recht genau die Charakteristik der Arbeit. Es ist eine elektronische Musik, weil fast alle Klänge mit elektronischen Geräten, seien sie so schlicht wie das Megaphon oder so komplex wie der Computer, erzeugt oder manipuliert sind. Dazu tritt eine theatralische Komponente, die nicht so dominant wie beim Musiktheater, aber doch deutlich zu spüren ist. Die vorgefundenen raumspezifischen Beschaffenheiten werden gestalterisch einbezogen und mit meist geringfügig inszenierten Objekten zu einer den Raum als Ganzes fassenden Bühne geformt. Tisch- und Stuhlreihen bilden das visuelle Zentrum, innerhalb dessen sich die Musiker bewegen. Auf den Tischen stehen die zahlreichen elektronischen Schaltkreise und Geräte, daneben ein paar Accessoires wie Blumenbuketts, Mineralwasserflaschen, Gläser und Tüten mit Knabberzeug. Und der gesamte Bühnen- und Zuschauerraum wird als einheitliches Objekt hell ausgeleuchtet und dadurch gewissermaßen ausgestellt.

 

Ästhetik der Vergegenwärtigung
Zur Arbeit der Frankfurter Künstlergruppe Augst, Daemgen, Korn

von Hanno Ehrler

Das Lied ist der Pol, um den alles kreist. Mit beinah magischer Kraft zieht es Oliver Augst, Marcel Daemgen und Christoph Korn in seinen Bann. Es ist der Ausgangspunkt für die Projekte, die Arbeitsfläche, auf der sich die kompositorische Kreativität der Musiker entfaltet, und es dient auch als Matrize für die Form, in die die musikalischen Ergebnisse eingebettet werden. Der enge Konnex zu der populären und mit schwerer Tradition behafteten Gattung bedeutet nun keineswegs, daß die Frankfurter Gruppe sich innerhalb der Grenzen eines konventionellen, vertrauten oder gar schlicht unterhaltsamen Terrains bewegt, im Gegenteil. Die Musiker nutzen sämtliche Freiheiten heutigen Komponierens. Eine davon ist die Möglichkeit, nicht mehr nur moderne, zeitgenössische Klänge, sondern ganz beliebiges Material zu verwenden. Das kann dann eben auch ein Volkslied, ein Schlager oder ein Kunstlied sein, was die Musiker wie ein Zitat einsetzen oder fragmentarisch und klanglich stark bearbeiten. So öffnet sich der Kontext, in dem das Lied ursprünglich stand. Nun läßt es neue Deutungen zu, neue Wege, mit der Liedmelodie, den Harmonien und Rhythmen oder auch der Anmutung des Stücks zu komponieren.
Oliver Augst, Marcel Daemgen und Christoph Korn wählen für ihre Projekte ganz bestimmte Bereiche des Liedguts aus, vornehmlich solche, die ihnen heute wichtig scheinen. Über Volkslieder beschäftigten sie sich mit dem Begriff "Heimat", der durch Edgar Reitz´ gleichnamigen Film, durch Patriotismusdebatten und ähnliches in die Diskussion geraten ist. Unter dem Thema "Marx" spürten sie sozialistischen Propagandaliedern nach, um ein Dezennium nach dem Fall der Mauer die zerfallen scheinende Idee des Kommunismus zu reflektieren. Diesem und auch den anderen Themen haftet ein gesellschaftspolitischer Impetus an. Die Künstler arbeiten mit dem reaktionären oder progressiven, dem dogmatischen oder utopischen Gehalt des jeweiligen Liedguts. Sie projizieren ihn auf die gesellschaftliche Gegenwart und transformieren ihn durch ihre persönlichen Erfahrungen. So entstand beim "Marx"-Projekt ein Panorama aus satirischer DDR-Nostalgie, Sozialismuskritik und sentimentalem Nachsinnen über Utopien der eigenen Jugend, dessen kaleidoskopartige Vielschichtigkeit in bester aufklärerischer Tradition steht.
Die enge Verbindung zwischen Inhaltlichem und Musikalischem ist das Prinzip der Arbeit. Die Künstler wählen ein Thema, mit dem sie sich einige Zeit beschäftigen. Sie recherchieren ausführlich und hantieren, jeder für sich, am gefundenen Material, an Texten und Klängen. Ganz individuell erarbeiten sie Variationen, Collagen und Klänge. Das alles bildet einen Pool, mit dem dann in einem Prozeß des Austauschens und Improvisierens die "Endprodukte" entwickelt werden. Dabei überschreiten die Frankfurter Künstler die Grenzen des Werkbegriffs. Ihre Arbeit ist ein work in progress, bei dem jeder Manifestation, jedem Schritt weitere Schritte folgen. Dazu nutzen sie ganz unterschiedliche Formen der Realisierung. Sie spielen auf der Bühne, wobei mit dem Material immer neu und frei improvisiert wird. Es gibt CD-Produktionen, auf denen einige Realisationen des Themas fixiert sind, und Hörspielarbeiten für Radio und Internet.
Oliver Augst, Marcel Daemgen und Christoph Korn bilden eine Gruppe, verstehen sich aber zugleich als Individuen. Aus diesem Spagat beziehen sie ihre kreative Spannung. Es gibt Affinitäten in der Klangästhetik, die allen gemeinsam sind, etwa die ausgiebige, teils exzessive Verwendung von Geräuschen, von elektronischen Störgeräuschen wie Knistern, Knacken und Rauschen. Hingegen differieren die Vorlieben für bestimmte Arbeitsweisen und Musikstile, die von Popmusik über melodischen Gesang bis hin zu radikalen Geräuschexperimenten reichen und zitathaft eingesetzt werden. In diesem Klang-Arbeitsfeld der Frankfurter Gruppe brechen die engen Assoziationen, die der Begriff "Lied" zunächst setzt, auf und weichen einer gegenwärtigen, neuen Formulierung des Genres.



 

 

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