Jede Musikgruppe entscheidet sich irgendwann dazu, vielmehr: wird von ihrem Produzenten,
dem Produktionslabel, dazu entschieden, eine BEST OF-Scheibe ihrer Hits zu präsentieren. So geschah es auch Oliver Augst und Marcel Daemgen, als ihnen ihr Produzent Eckart Rahn nach Abschluss der im Jahr 2013 veröffentlichten CD DEIN LIED nahelegte, es wäre nach sieben Alben und 15 Jahren intensiver Schaffenszeit (vormals unter dem Namen ARBEIT) an der Zeit, ein BEST OF-Album herauszubringen. Die BESTEN LIEDER!? Welche sollen das sein? Wie soll man Hits eigentlich bestimmen, nach welchen Kriterien der Schönheit, des Marktwertes oder Ähnlichem? BEST OF bedeutet doch meist, die Hits sind bekannt, alle wollen sie, und die Fans wie die Plattenfirma freuen sich über die lukrative Zusammenstellung der Liste? Quantität ist Qualität. Zwischen Klangfeldern von experimentellem Noise und süßlichem Schlager changierend, sahen sich die beiden zu keinem Zeitpunkt einem Zuspruch ausgesetzt, der sie an "ihre" Hits hat denken lassen. Wie also ein BEST OF-Album produzieren?
Die Welt ist voll von erhobenen Daten. Eine (um es kurz im betriebswirtschaftlichen Jargon aufzuarbeiten) qualitative Auswertung ist schier kaum noch möglich. Deshalb werden Hierarchien eingeführt, Muster, Schemata, die das Eine vom Anderen, das Bessere vom Schlechteren unterscheiden:
Ich habe 95 von 100 Matchpoints in einer Dating-App mit einer Frau aus Sachsenhausen, mein Regenmantel fiel im Test wegen schlecht gemachter Nähte durch, und bevor ich mich an diesen Booklet-Text gesetzt habe, musste ich noch schnell den Keller entrümpeln und ein Konzept abschicken: Jeder führt Listen, ordnet die Masse an Dingen für sich. Und vielmehr noch existieren die Listen eines allumgreifenden Marktes, der objektivere Quantitäten, offizielle Standards produziert, die durch die zunehmende personalisierte Benutzerumgebung der Medien immer mehr ins Private reichen. BEST OF-CDs sind gegenüber einem "Das könnte ihnen gefallen" schon fast antiquiert.
Es sind weiter völlig verschiedene Listen der Musik von Augst & Daemgen vorstellbar: So unter anderem "Das Schlager-Album" oder "Das Noise-Album". Jedes dieser Alben würde eine ganz eigene Sicht auf das Schaffen der Beiden werfen. Wer ist Oliver Augst? Einer die Herzen erobernder Entertainer oder doch der Experimentalmusiker mit ausgebildetem Tenor? Ein BEST OF kann also spannend werden mit der Frage nach der Retrospektive und ihren Kriterien. Das kennt man aus dem Kunst-Kontext: Die vergessenen Zeichnungen, oder eben die Top 10 -Werke (die teuersten, meistgereisten, größten, kleinsten…). BEST OF in der Musik ist demnach immer eine Form der Retrospektive, ein Kramen in der Vergangenheit und des biografischen Zuschnitts. Oder doch nicht? Es gibt Schlagergruppen, die ihre Karrieren mit BEST OF-Alben begonnen haben.
Manchmal sind Hits milieugebunden: Legendär ist ein Auftritt von Augst & Daemgen am 19.11.2011 im Institut für Vergleichende Irrelevanz (IVI), der Ort eines linken Studierendenmilieus. Hier traten – politisch nicht ganz unerwartet – klare Hits zu Tage. So einige Lieder aus dem MARX -Album (2004) mit historisch bedeutsamen Stücken wie "Die Internationale" oder "Der heimliche Aufmarsch".
Aber es gibt auch messbare Hits, wie Augst & Daemgen schließlich feststellten, als sie sich einmal ihre Bestenlisten, also die meistgeklickten Lieder bei iTunes, Youtube und Spotify, anschauten. Beim Vergleichen der verschiedenen Bestenlisten, also hier der meistgehörten Lieder, zeichnete sich eine Tendenz zu den ausarrangierten, besonders dichten Stücken ab. Vornean auch hier "Der heimliche Aufmarsch".
Diesem Marktgeschrei der Musikindustrie konnten und wollten sich Augst & Daemgen nicht annehmen – und dennoch sollte ein BEST OF - Album von ihnen erscheinen. Ganz im Sinne von Albert Oehlens Ausspruch "Erkennen, Negieren, Eliminieren und trotzdem machen" entstand die Idee, etwas ganz Neues entstehen zu lassen, wo BEST OF vor allem als Behauptung stehen bleibt.
Die vorliegenden Stücke sind ursprünglich alle von Marcel Daemgen bearbeitet worden, und er hatte keine Lust diese selbst nochmal zu remixen – dies sollte dann schon jemand anderes machen. Verständlich. Augst nahm dies zum Anlass für eine ganz persönliche Vergangenheitsbewältigung:
Die eigene Musik einmal neu beschauen, dekonstruieren, die einzelnen Tonspuren neu mischen, eben remixen.
Im Frühjahr 2014 stellte Daemgen die alten Masterspuren bereit (was nebenbei bemerkt bei 15 Jahren Schaffensphase über die 2000er Jahre hinweg zu massiven Softwarekonflikten führte).
Raus, raus, raus, waren dabei die Worte von Augst beim Berichten von seinen Studiosessions. Er hätte erstmal alle Spuren, die ihm auf den ersten Blick nicht gefielen, ausgeschaltet. Den Neubeginn,
die Revisitation ihrer Hits machte ein jedes Mal die Stimme, also der Ausgangspunkt eines jeden Liedes, das einer Begleitung bedarf – oder auch nicht. So folgt die erste Strophe von "Der Winter ist vergangen" allein sich selber. Von dort aus entschied sich Augst in hörbar wenigen Momenten dazu, wieder einzelne Stimmen einzuschalten oder auch, wie z.B. in "Illusionen" geschehen, neue aufzunehmen. Der Bombast
der hochproduzierten "Hits" reduziert sich durch den Remix von Augst aufs Minimalste.
Daraus entstanden sind elf vollständig neue Liedproduktionen, die den ausformulierten Impetus des vergangenen Schaffens hinter sich gelassen haben.
Damit folgt auch dieses Remix-Album einer Tendenz im Schaffen der beiden Künstler der letzten Jahre, die 2013 in DEIN LIED mündete. Dieses erste Album mit Liedtexten von befreundeten Künstlern zeichnet sich aus durch ein äußerst gut gesetztes Wenig, ein karges Schlagzeug Sven-Åke Johanssons mit einigen elektronischen Bässen oder Klangflächen. Im Zentrum steht die Stimme, das Wort, der Text.
BEST OF beinhaltet neben elf Remixen aus den frühen Alben BRECHT EISLER (1998), AN DEN DEUTSCHEN MOND (2001), MARX (2004), JUGEND (2006) und ARBEIT FASSBINDER RABEN (2010) auch ein unveröffentlichtes Lied – das "Solidaritätslied" erklang bisher nur auf Konzerten – sowie zwei unbearbeitete Originale, "Der heimliche Aufmarsch" und "Die Moorsoldaten", in die Augst nicht nochmal
künstlerisch eingreifen wollte.
Die Revisitation des alten Schaffens lässt viel erhoffen: Sich noch einmal an der eigenen Vergangenheit abarbeiten, im Sinne von Augst Worten "Raus, raus, raus", um schließlich neue Wege zu finden!?
© Bastian Zimmermann
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