THE WHOLE WORLD IS WATCHING
/ 2007
Das Musical The Whole World Is Watching ist die dritte
Zusammenarbeit von Oliver Augst und Raymond Pettibon. Der Textkörper
The Whole World Is Watching: Weatherman '69 wird hier als musikalisches
Libretto begriffen, das als Trash Musical von einer All-Star-Band aufgeführt
wird, die speziell für dieses Projekt zusammengestellt wurde.
The Whole World Is Watching
The Whole World Is Watching: Weatherman '69 von Raymond Pettibon ist ein sich über
50 Seiten erstreckender Textkörper aus Dialogen, Slogans, Songtexten und
monolithischen Textblöcken.
Der Text stammt aus einer Arbeitsphase in den späten 80er Jahren, in der
Raymond Pettibon sich vorwiegend mit der amerikanischen Subkultur der 60er und
70er Jahre auseinandersetzte. Inspiriert ist der Text von der radikalen Splittergruppe
der US-amerikanischen Studentenbewegung, Weatherman, die von 1969 bis 1975 in
den USA mit Bombenattentaten einen Stellvertreterkrieg für die "unterdrückten
Völker" im In- und Ausland führte. Dem weißen, mittelständischen
und studentischen Milieu entstammend, kämpften die Mitglieder von Weatherman
mit terroristischen ebenso wie mit propagandistischen und massenmedialen Mitteln
gegen den us-amerikanischen Imperialismus und Rassismus des Vietnamkriegs und
der Rassentrennung.
Mit einem Personal von über zwanzig teils fiktiven, teils historischen Figuren
zeichnet der Text ein collagehaftes Bild der im Untergrund lebenden Widerstandsgruppe.
Historische Begebenheiten und Begegnungen mit popkulturellen Berühmtheiten,
wie Jane Fonda und John Lennon, tauchen ebenso skizzenhaft auf, wie der alltägliche
Wahnsinn der subkulturellen Existenz und die Sehnsüchte der politisierten
Mittelstandskinder.
Pettibon selbst hat den Text als trashiges VHS-Video mit den Künstlern Mike
Watt, Kim Gordon und Thurston Moore von der Gruppe Sonic Youth umgesetzt. Eine
Bühnenfassung des Werks steht bisher aus.
Humor doesn't trivialize the real consequences,
the people that get hurt, for instance. I'm not making light of that.
(Pettibon Interview)
Thematischer Gegenstand
Thematischer Gegenstand ist zum einen die Sammlung und Collage unterschiedlichster ästhetischer
Schreibweisen (vor allem subkultureller Schreibweisen) und ästhetischer
Strategien über das Thema Gewalt. In Pettibons Zeichnungen und Texten ist
dieses Thema eines der zentralen Momente. Es ist die Gewalt, die eine radikalisierte
Subkultur dem System entgegensetzt; es ist die Gewalt des kleinbürgerlichen
Milieus und die Gewalt der gegen den eigenen Körper gerichteten Drogenexzesse.
Dies alles ist uns aus deutscher Sicht im Kontext der 68er Bewegung wohl bekannt.
Das Besondere an den Texten Pettibons jedoch ist die Durchdringung dieser Themenkomplexe
mit der ihm eigenen Form des Slogans, die Organisation der Text-und Dialogstrukturen
als punk trash und die zur Verfügungstellung kompletter Songs, wie sie im
Musical oder im epischen Theater Brechts vorkommt. (Der Einfluss Brechts ist
in der Struktur des Textes deutlich abzulesen.) Die harten Schnitte, kraftvollen
Slogans und absurden Übertreibungen, evozieren eine Stimmung der Haltlosigkeit
und der Dissoziation, die auch ein derartiges gewaltvolles Leben am Rande der
Gesellschaft charakterisieren. Das monolythische, massive der Slogans und Charaktere
- nicht zuletzt der auftretenden Popikonen - unterstreicht die Schwierigkeit,
im Rückblick das Geschehen analytisch und empathisch aufzubrechen.
When we were talking about heroes I brought up
that the usual person who is considered a hero is really the opposite of
what I would consider. And it's a way of trying to break down this kind of
natural awe and respect that comes out of a fear or envy. There's this built-in
respect that shouldn't be there completely. I told you how much I consider
characters like Gumby with respect. (Pettibon
Interview)
Entsprechend bildet der Umgang mit Vergangenheit den zweiten thematischen Gegenstand
der Arbeit. In Pettibons Text sind die 60er/70er Jahre bereits ein Konglomerat
aus Anekdoten, popkultureller Nostalgie und historischen Slogans, ein hybrides
Gemisch aus historischem, imaginiertem und persönlichem. Geschichte ist
kein festes, sich dem unmittelbaren Zugriff entziehendes Wissensgut sondern ein
Prozess der Aneignung und der Imagination. Es ist gewissermaßen interferentielle
Geschichstschreibung (Jacques Le Goff), bei der Erinnerung und Imagination, gelebte
und das projizierte Historie einander ergänzen. Popmusik, Mode, Sprachformen,
Slogans und ihr emotionales Gewicht sind für diesen Prozess ebenso wichtig,
wie historisches Wissen.
Künstlerische Zugriffstechnik
Die künstlerische Zugriffstechnik auf all diese Materialien ist am nächsten
mit dem Begriff der Sammlung zu beschreiben. Ähnlich etwa den Sammlungen
historischer Diskurse durch Foucault: Recherche, Sammlung, Collage (ohne moralisierende
oder wertende Intention), tobende Ordnung.
Der Pettibon-Text wird zentraler Ausgangspunkt und roter Faden der "Show" sein.
Dabei geht es nicht um ein Dramatisieren von Dialogen und Szenen, die in der
Vorlage ja allenfalls bruchstückhaft existieren. Die verschiedenen Textteile
werden vor allem als Songmaterialien verstanden und gesichtet. Der Popsong als
Zeitmaschine. So entsteht eine Schichtung von Pop-Zitaten und Originaltexten
die ein Annähern und Umkreisen des Gegenstands (die Geschichte der gewalttätigen
linken Subkultur) aus verschiedenen Perspektiven ermöglicht.
Die historische Perspektive definiert sich dabei folgendermaßen: zum einen
zielt sie primär auf den eigenen historischen Standort und zum anderen macht
sie die historische Differenz in einer Trauerarbeit über eine verpasste
Chance gesellschaftlicher Entwicklung spürbar. Revolte und Scheitern. Jeder
der Performer bringt seine eigene Biographie in die Erinnerungs-/Trauerarbeit
ein und schafft damit neue Anknüpfungspunkte an den historischen Gegenstand.
Popkulturelle und kulturindustrielle Artefakte (Schallplatten, Bücher, Namen,
Slogans) bilden eine Art Gerüst, in dem sich die eigenen Wunsch- und Angstvorstellungen
ebenso wie das historische Wissen festsetzen und im Ausagieren auf der Bühne
zu einem zusammengesetzten, hybriden Monster heranwachsen.
Der Begriff des Musicals greift ganz gezielt die oberflächliche Struktur
des Textes auf: eine szenische Handlung, in der Emotionen, Stimmungen oder Ereignisse
von hervorgehobener dramatischer Bedeutung, in Songs übersetzt und dargeboten
werden. Das Singen und Tanzen ist dabei mehr oder weniger durch den logischen
Handlungsverlauf legitimiert und darin eingebunden.
Durch das nicht hierarchische und fragmentarische der Handlung und durch die
Zerschlagung und gleichzeitige Erweiterung des Begriffs des Ensemblespiels auf
der Bühne wird der Begriff des Musicals als Gattungsbezeichnung hier jedoch
ad absurdum geführt. Musical wird zu einer ironischen Reminiszenz an den
Glanz des Pop, wie er auch in das subkulturelle Milieu der Weatherman von Ferne
hineinstrahlt. Statt der Evozierung des "Spirits" einer Epoche ist
die mitunter schmerzhafte Bewusstwerdung der historischen Differenz und der eigenen
historischen Position das Ziel.
ALL AMERICANS MUST DIE. THEY´RE THE ONLY
RACE OF PEOPLE THAT ACTS LIKE THEY´RE IMMORTAL - AND THEY PRACTICALLY
ARE. THE SOONER THE BETTER.
(THE WHOLE WORLD IS WATCHING)
Beteiligte Künstler
The Whole World Is Watching arbeitet gezielt mit der Einbindung verschiedener
Künstlerpersönlichkeiten, die durch ihr Werk und ihre Biografie spezifische
historische und gesellschaftliche Kontexte repräsentieren. Diese über
die Künstler repräsentierten Kontexte werden als historische Materialien
verstanden und als formale Metaphern mit in die Komposition eingebunden.
Raymond Pettibon wurde erstmals durch seine Plattencover für
das amerikanische Westcoast Punklabel SST bekannt, über das er zunächst
auch seine seit 1978 herausgegebenen Künstlerhefte vertrieb. Zuerst hauptsächlich
einer subkulturellen Öffentlichkeit bekannt, hat Pettibon längst in
renommierte Institutionen vom Museum of Contemporary Art in Los Angeles bis hin
zum Museum of Modern Art in New Yorker oder zur Documenta Eingang gefunden.
Eines von Raymond Pettibons ersten Themen war die Kritik der Subkultur der 60er
Jahre und deren letztlich fehlgeschlagenen Auflehnung gegen die Autorität
ihrer Väter. Seit Mitte der achtziger Jahre arbeitet Pettibon obsessiv an
seinem Universum aus Kombinationen von Bild- und Textfragmenten. Es umfasst neben
Videofilmen, Texten, Musik und Plattencovern (u.a. für Sonic Youth, Black
Flag- und Minutemen) vor allem Tausende von s/w Zeichnungen, mit denen er in
seinen Ausstellungen die Wände fast komplett bedeckt. Seine textlichen Quellen
reichen von der Literatur der Moderne, wie Proust und Pound, über die Sportberichte
von Tageszeitungen, bis zu Groschenromanen, die als handgeschriebene Textpartikel
zum Bildmaterial nicht logisch, sondern "lyrisch" hinzu assoziiert
werden. Der Betrachter wird mit einem Mahlstrom aus Chiffren, Zeichen und Texten
verschiedenster Herkunft konfrontiert, die keine erkennbare Ordnung verbindet.
Pettibon illustriert gleichsam den "stream of consciousness" der gegenwärtigen
Kultur und arbeitet sich an einem kompromisslosen Portrait des "Amerikanischen
Alptraums" ab.
Pettibons Bilder und die Art, wie er Themen aufgreift, haben nichts an Aktualität
eingebüsst: Das zeigte sich bei der Documenta 2002, wo er eine den ganzen
Raum einnehmende Collage zum 11. September 2001 schuf. Dabei gelang es ihm, mit
dieser stillen und bescheidenen Arbeit das einfache Freund-Feind-Schema zu durchbrechen
und den amerikanischen Mythos der Unantastbarkeit als psychologischen Selbstschutz
zu entlarven.
"It's a mistake to assume about any of my work
that it's my own voice. Because that would be the most simple-minded ineffective
art that you
can make." (Pettibon Interview)
Neben Pettibon findet die Zusammenarbeit mit Schorsch Kamerun statt,
den man als prägenden Vertreter einer deutschen Subkultur verstehen kann.
Schorsch Kamerun ist Sänger und Mitbegründer der linken Hamburger Punkband
Die Goldenen Zitronen und gemeinsam mit Rocko Schamoni Besitzer des legendären
Golden Pudel Clubs in Hamburg. Mitte der Neunziger hatte er zusammen mit Schamoni
eine Fernsehserie auf 3sat, "Pudel Overnight", die 2001 in veränderter
Form fortgesetzt wurde. Außerdem ist Schorsch Kamerun als umtriebiger Theatermacher
auf deutschsprachigen Bühnen tätig, unter anderem an der BERLINER VOLKSBÜHNE
("Eisstadt"), am SCHAUSPIELHAUS ZÜRICH ("Macht Fressen Würde")
und am STAATSTHEATER HANNOVER ("Der Chinese Im Kinderbett"). Im Juni
2005 inszenierte er bei den Wiener Festwochen die Uraufführung des Stückes "Draußen
tobt die Dunkelziffer" von Kathrin Röggla.
When you're a red you're a red all the way
From your first party cell till your class takes the state
When you're a red you will fight till you die
With a gun in your hand and an armed struggle line
(THE WHOLE WORLD IS WATCHING)
Ebenfalls in das Projekt eingebunden ist der japanische
Musiker Keiji Haino. Der Stimmkünstler, Gitarrist und Schlagzeuger
Haino
ist einer der radikalsten Vertreter der äußerst bizarren Tokioer Hardcore
Rock- und Punk-Szene. Der "große Enigmatiker unter Japans Musikextremisten" (DIE
ZEIT) hat etwas dandyhaft Dämonisches. Alter und Geschlecht sind bei seinen
Performances, die er stets beschützt von dunklen Sonnenbrillen zelebriert,
kaum auszumachen. Der radikale Weg des "Noise-Gottes", der als Sänger
und Performer agiert, setzt da an, wo andere ihre Grenzen sehen: "The reason
why rock music today is worthless, is because it's only trying to do the possible.
But I believe that rock means the impossible, the incomplete." (Haino) Neben
seiner Kollaboration mit Oliver Augst arbeitete Haino auch mit John Zorns Painkiller,
Thurston Moore, Fred Frith oder Alan Licht (Mandarin Movie) zusammen.
WE TRADED OUR LIEUTENANT FOR HEROIN, WE SURVIVED
THE WAR WITH BUT ONE
CASUALITY,
AN OVERDOSE. AND WE DIDN´T HURT NO ONE.
(THE WHOLE WORLD IS WATCHING)
Oliver Augst studierte visuelle Kommunikation mit Schwerpunkt
Bühne an der
Hochschule für Gestaltung/Offenbach und Popularmusik/Performance an der
Hochschule für Musik und Darstellende Kunst/Hamburg. Er erhielt u.a. das
Atelierstipendium des Künstlerhauses Mousonturm (Frankfurt 1991-'93), ein
DAAD Stipendium für freie Kunst (Wien 1994) sowie ein Stipendium für
Komposition an der Akademie Schloss Solitude (Stuttgart 1995). 1997 war er Preisträger
der Dresdner Tage für zeitgenössische Musik, wo er mit dem französischen
Komponisten Marc André das gemeinsame Musiktheater-Werk "un fini" zur
Uraufführung brachte. Seine künstlerischen Produktionen u.a. in Zusammenarbeit
mit Blixa Bargeld, Raymond Pettibon, der Technoise Band "freundschaft" oder
dem Trio "Blank" (Augst/Carl/Korn) wurden international auf zahlreichen
Festivals für zeitgenössische Musik und Medienkunst präsentiert.
(u.a.: Volksbühne Berlin, Taktlos Bern, Bregenzer Festspiele, Steirischer
Herbst Graz, Intermedium/ZKM Karlsruhe, Documenta Kassel, Ars Electronica Linz,
Whitechapel Art Gallery London, Knitting Factory New York, European Media Art
Festival Osnabrück, Ruhrfestspiele Recklinghausen, WienModern, Politik im
freien Theater Berlin). Für On Kawara realisierte er zusammen mit Christoph
Korn die CD-Veröffentlichung und Installation "One Million Years" bei
der DocumentaXI. Er ist Gast-Dozent an der HfG Offenbach, Kunsthochschule des
Landes Hessen und an der Fachhochschule Frankfurt. Oliver Augst war Co-Initiator
und Kurator von "pol - Festival neue Musik" am Künstlerhaus Mousonturm
in Frankfurt/Main und kuratiert und leitet zusammen mit Christoph Korn die "Audio
Art Series" ebenfalls am Künstlerhaus Mousonturm.
Marcel Daemgen studierte Musikpädagogik an der Johann Wolfgang
Goethe Universität/Frankfurt
und Tontechnik an der "School of Audio Engineering" (SAE). Seit 1989
arbeitet er als freischaffender Komponist, Produzent und Live-Musiker in den
Bereichen Elektronik-, Noise- und Popmusik, u.a. in Zusammenarbeit mit Alfred
23 Harth, Thomas Pernes, der Technoise Band "freundschaft", "electronic
music theater" und den TänzerInnen Christine Bürkle und Stephen
Galloway. Als Musiker und Komponist trat er in zahlreichen Städten in Europa
und Amerika und auf internationalen Festivals auf. (u.a. Alte Oper Frankfurt,
TAT-Bockenheimer Depot Frankfurt, Forum Neue Musik Köln, Fylkingen - Zentrum
für Neue Musik Stockholm, Knitting Factory New York, Künstlerhaus Wien,
Wien Modern, Ars Electronica Linz, Akut Festival Mainz, Zdarzenia Festival Tczew/Polen,
Jazz Festival "San Juan Evangelista" Madrid, Politik im freien Theater
Berlin) Er komponierte Ballett-, Theater und Filmmusik (Hessische Filmpreise
1999 und 2000) sowie diverse Auftragsarbeiten für Werbung und Popmusik.
Jan-Philipp Possmann ist freischaffender Dramaturg und Kurator
in Berlin, Frankfurt und Amsterdam. Er ist Leiter des Festivals PLATEAUX - Neue
Positionen Internationaler Darstellender Kunst sowie Kurator der Mannheimer Schiller
Tage 2007. Als Dramaturg
arbeitete er unter anderem zusammen mit "Rimini Protokoll", "WILHEM
GROENER", "electronic music theater", sowie den Regisseuren David
Weber-Krebs und Oliver Sturm, dem Choreografen Christoph Winkler und dem Autor
Peter Weber.
Anne Schulz studierte Kulturwissenschaften und ästhetische
Praxis mit Schwerpunkt
Theater/Medien an der Universität Hildesheim. Dramaturgieassistenz beim
Festival THEATERFORMEN (Hannover/Braunschweig 2004), Mitarbeit beim "Volkspalast" (Berlin
2004), Produktionsassistenz bei Christoph Schlingensiefs "Der Animatograph"/Edition
Island (2005), Produktionsleitung für die Compagnie Thomas Lehmen (2005).
Entsandte im Auftrag des Instituts für Auslandsbeziehungen in Braov/Rumänien
(2005-2006).
There's always something from the sky just about to fall on you. Even though
my work is usually just one drawing, it is more of a narrative than it is a cartoon
with a punch line and a resolution and a laugh at the end.
I think it's work that is best when there isn't any final resolution. When you
don't finally arrive.
(Pettibon Interview)
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