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STADT DER 1000 FEUER / 2013

Tanzmusik im Palasthotel
Beste Saxophonkapelle
Eben langsam, wieder schnell
Wogt die bunte Menschenmenge.
Wie der straffe Neger hackt
Auf dem Brett dazu den Takt.
"I love you little girl!"

(Sprechchortext um 1920)

Ausgangspunkt:

Hochindustrialisierung, Arbeiterbewegung, Entstehung von Industrielandschaft, explosionsartiger Bevölkerungsanstieg, Zuwanderung etc. prägten das ausgehende 19.Jahrhundert. "STADT DER TAUSEND FEUER" knüpft in furioser Stimmenflut daran und an die aus der Industrialisierung resultierenden sozialen Bewegungen an und schaut, was davon übrig ist, was noch von Bedeutung ist an Inhalten, Utopien, Sättigung etc.
Und: Was ist eigentlich Arbeit hier und heute?

Auf der einen Seite steht die philosophisch-politische Dimension des Arbeitsbegriffs:
die aufklärerisch-politische Entwicklung, die Mitte des 19. Jahrhunderts ihren Anfang mit Karl Marx nahm, ist gedanklicher Ausgangspunkt von "STADT DER TAUSEND FEUER". Eine Geschichte, die später wesentlich das 20. Jahrhundert prägte, changierend zwischen Barbarei, stoischer Begriffsarbeit, radikaler Kritik, als auch materialistische, massenmobilisierende und bewusstseinsbildende ästhetische Konzepte (Piscator, Brecht, Eisler, Tretjakow, Toller, Schönlank.)

Man stellt sich Karl Marx vor, wie er am Ende seines Lebens in London sitzt am Schreibtisch, um das „Kapital“ zu vollenden. Krankheit plagt ihn, Husten, Leberleiden, Kopf- und Augenschmerzen, Rheuma, Schlaflosigkeit, Tuberkulose, Acne inversa, Marx raucht und arbeitet, kämpft mit dem Werk und der Krankheit.
Der Mann, der sein Leben der Arbeit gewidmet hat, kann kaum arbeiten. (…)
Man stellt sich vor, wie Marx sich fragt, ob hundertdreißig Jahre nach seinem Tod noch Menschen seinen Namen kennen, seine Arbeiten lesen, und in welcher Welt das ist (…)
Jetzt hockt Marx über seiner abstrakten Arbeit und versucht sich zu veräußern in den Fetisch „Kapital“, sich seinem Körper zu entfremden, der ihn piesackt, dieser Lumpenkörper. Man stellt sich vor, wie Marx an nichts denkt als an seine Schmerzen und an sein Vermächtnis. (…) Marx arbeitet an Marx und gegen Marx an.
(Textauszug)

 

Auf der anderen Seite die konkreten persönlichen Auswirkungen der veränderten Arbeitswelt, der sich wandelnden Konzepte von „Arbeit“ im postindustriellen Informationsland:
- Ein Proletariat, das nicht arbeitet, sondern Hartz IV empfängt und fernsieht, und heute „Prekariat“ heißt
- Die Arbeitsstelle, die das Sein und das Bewusstsein definierte (und kollektivistisch einbettete), weicht einem projekthaften, verflüssigten Arbeits- (als Werk-)Begriff, der vom Zeitmanagement des individuellen Lebensprojektleiters „Ich“ als fortwährende Arbeit an der Seinsdefinition begriffen wird.
- Was von der „alten Arbeit“ bleibt, ist ein Arbeitsethos, der die fluid dynamisierte Arbeitsrealität mit Erdung versieht und als (moralische, überkapitalistische) Leitkultur dient.
- Was von der „alten Arbeit“ bleibt, sind Brachen, die wahlweise zu Mahnmalen des Verfalls, kunstpädagogischen Begegnungsstätten oder Abenteuerspielplätzen umfunktioniert werden, in ihrer unverwandelten architektonischen und topographischen Struktur aber das Obsolete im Heutigen behaupten.

Über zehntausend Mitarbeiter, dreihundert allein hier in der Halle. Ich einer davon. Hundertzwanzigtausend Stück haben wir rausgerattert pro Tag. Hundertachtzig früher mal, zur besten Zeit, als wir kriegswichtig waren. Wenn ich die Augen schließe, höre ich noch die Werkmaschine. Rattata-tschnatta rattata-tschnatta rattata-tschnatta.
(Textauszug)
 
Die „alte Arbeit“ ist der Gegenwart als roter Faden eingewoben, der seine Definitionsmacht über das Sein verloren hat, das Bewusstsein aber (als historisches Erbe verstanden) umso mehr bestimmt.
Die Verwendung des Arbeitersprechchors als Klang- und Rhythmusmaterial und „Grundstoff“ der Aufführung vollzieht dies nach.

 

ES  -  LEBE  -  DAS  -  VOLK  -  DER  -  REVOLUTION
ES  -  LEBE  -  DAS  -  VOLK  -  DER  -  REVOLUTION
ES  -  LEBE  -  DAS  -  VOLK  -  DER  -  REVOLUTION
ES  -  LEBE  -  DAS  -  VOLK  -  DER  -  REVOLUTION

(Sprechchortext um 1920)

 

Arbeitersprechchor:

Eine der ästhetischen Praxen war die in den 1920er Jahren im Kontext mit der kommunistischen Arbeiterbewegung entstandene Form des "Arbeitersprechchors". Erste Arbeitersprechchöre entstanden um 1918 und waren zu hören bei den sogenannten "Proletarischen Feierstunden", wie sie sonntäglich beispielsweise im Großen Schauspielhaus in Berlin abgehalten wurden. Alfred Kern, führender Funktionär der USPD, beschreibt die damalige Atmosphäre:

"Masse auf den Plätzen! Massenschritt in Straßen! Rote Fahnen! Freiheitslieder! - das war 1918. Aus allem Chaos, aus all dem Verbrechen des Krieges erhob sich eine Masse; sie sang trotzig das Lied der Revolution und trug rote Fahnen durch die Städte. Das Proletariat stand auf und sammelte sich, der Marsch in den neuen Morgen begann. Überall der Ruf: Gemeinschaft, überall Zusammenschluss. Das war die Geburtsstunde des Sprechchors. Der Sprechchor wurde so Aufschrei und Anklage, Marsch und Ruf des Proletariats."


Sprechchor und STADT DER TAUSEND FEUER

Mehr unter formalen, weniger inhaltlichen Gesichtspunkten ist der Arbeitersprechchor zentraler Bestandteil von "STADT DER TAUSEND FEUER". Im Text verwenden wir das Sprechchor-Stück „Der gespaltene Mensch“ von Bruno Schönlank, 1927:
a) als Verweis auf und als Produktionsform eines proletarisch-ästhetischen Konzepts.
b) Als Klangkörper mit der Möglichkeit zu extremer Massivität. 
"Knappste Wortgebung soll sich einhämmern und den Körper zur Bewegung zwingen. Anklagende, drohende, wirblig packende Rhythmen sollen erschüttern." (Bruno Schönlank, 1919)
c) Als Aufführungs- und Ausführungspraxis: einfache und grob gestaltete Textformen und Rhythmisierung, der solistische Feinheit gegenübergestellt werden soll.
d) Strukturell: Aufteilung des Werkes in Strophen, Episoden ("STADT DER TAUSEND FEUER" enthält mehrere fragmentarisch organisierte Episoden), Aufteilung in Chor und solistische Sprach -und Gesangsstimmen

 

Drei Sekunden
Zwei Sekunden
Eine noch
Noch eine halbe

(Auszug Schönlank)

 

Textmaterial:

Neben den Sprechchören steht neu geschaffenes Textmaterial von John Birke.

Basieren die Sprechchortexte durchgehend auf Konstruktionen wie "oben und unten", "Proletarier und Kapitalist", "Freiheit und Unterdrückung", verschwimmen diese Perspektiven im neuen Text zugunsten der Selbstverortung des Individuums in einer Welt, die keinen Platz mehr für es hat, schon gar keinen Arbeitsplatz.

 

- Praktikum, fragt mich der Fucker, ob ich ein Praktikum.
- Sie könnten ja ein Praktikum bei uns.
- Ein Praktikum, ja, Praxiserfahrung hab ich eigentlich genug, jetzt könnte ich mal praktisch einen Job.
- Sehn Sie, wir sind da auf Ihre Begeisterungsfähigkeit angewiesen.
- Danke.
- Also wenn Sie sich begeistern könnten, würden wir Sie hundertprozentig vollwertig einsetzen. Da könnten Sie was lernen.
- I’m sorry, tschuldigung, I’m really sorry, tut mir leid, verzeihn Sie mich. Entschuldigen Sie mir mich, dass ich mich hier so frech in diesen Markt mich reinzudrängen, dass ich hier in diesen Arbeitsmarkt so meine Arbeit zu Markte trage, entschuldigen Sie, dass ich da einen Platz für mich in Anspruch, meinen Anschlag auf den Markt, dass ich anschlägig ansprüchlich anstellig frech meine Anstelligkeit in Anstellung umzumarkten -münzen suche, bitte bitte entschuldigen Sie mich und mir die Arbeit sorry.

(Textauszug)

 

Inhaltlich konterkarieren die Texte die Eindeutigkeit im politischen Impetus der Sprechchöre; formal setzen sie dem linearen Insistieren des Chors teils eine sprudelndere, teils kreisende Textbewegung entgegen.

 

Musiker schwitzen. Beugen sich über ihr Instrument, streicheln es, zupfen es, schlagen, Musikarbeit, Musiker schwitzen, an ihrem Instrument in ihrem Werk perlen Tropfen dem Musiker in den Arbeiternacken. Musiker schwitzen, weil Musiker arbeiten, schöner als irgendwer schwitzen sie ihr Werk in die Nacht hinein, jeder Ton eine Perle, jedes Riff ein Bach, jeder Beat ein Spritzer.

Ist das nicht köstlich, ist das nicht ein historischer Coup des Ironischen: Der Künstler, der heutige ganz und gar selbständig vagabundierende Vogelfrei-und-Abstraktarbeiter hat einen Nine-to-five-Tag, und der weiland Arbeitnehmer hockt nine to five auf der Couch vor der Glotze.
Oder gelingt es doch, den Abgehängten, Abgehalfterten, den Aussortierten, Freigesetzten, zur Tätigkeit zu bewegen, und sei es Ehrenamt, und sei es in sekundärer Arbeit, im Privatmarkt phantomarbeithafter privatisierter Partikularsekundärinteressen

(Textauszüge)

 

Insofern markieren beide Textformen tatsächliche historische Entwicklungen: massenmobilisierend gedachtes Skandieren, die proletarische Revolution nahe geglaubt, und ein zeitgenössisches Schreiben, in dem sich Geschichte in abertausende von Partikeln aufsplittert, die sich überlappen und ausschließen. Dort gibt es kein "oben und unten" mehr. Vielmehr ist das ICH determiniert und durchzogen vom geschichtlichen Diskurs ("Ich bin die Fahne", Heiner Müller).

Klang:

- Stimmen, solistisch und chorisch, mit Mikrophonen verstärkt, verschiedene Gradationen von Verzerrung. Rückkopplungen. Text löst sich teilweise in reinem Klang/Noise auf.
- Große Dynamik von vereinzelten Worten bis zur extremen Massivität von Stimm-Drones.
- Elektronisch aus den Live-Stimmen generiertes Klangmaterial. Filter. Rauschen. Loops

Für den Chor sind eine ganze Reihe kleiner Begriffsketten und Texteinheiten als sogenannte Episoden sprachrhythmisch notiert. Die musikalische Umsetzung der Begriffe ist am normalen Sprechduktus orientiert sehr simpel. Erst die spätere Kombination und Überlagerung der einzelnen vom Chor loopartig wiedergegeben Elemente erzeugt Komplexität.
Für die Solisten stehen längere Textblöcke zur Verfügung, frei gesprochen, dennoch in rhythmisiert-musikalischer Sprache.
Aus diesen getrennt aufgezeichneten Fragmenten wurden in der Nachbearbeitung die eigentliche Komposition und alle Klangebenen zusammengebaut und als Hörspiel produziert. Dieses wird nun für die Aufführung erneut als Libretto notiert und ist Ausgangspunkt weiterer Anpassungen für die Bühne.

 

Laufendes Band!
Muskeln
Straffen
Schaffen
Schaffen
Feilen
Feilen
Bohren
Bohren
Hämmern
Hämmern
Griff um Griff
Gleichen Griff
Schlag um Schlag
Gleichen Schlag
Unerbittlich,
Immer wieder,
Immer weiter,
Immer wieder

(Auszug Schönlank)

 

Bisherige Zusammenarbeit Augst/Birke:

ICH BIN DER WELT ABHANDEN GEKOMMEN / 2011
Karl May

Hörspiel von Augst/Birke/Daemgen
Mit Unterstützung der Stadt Frankfurt am Main (Amt für Wissenschaft und Kunst) und dem Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst.
Eine Produktion von textXTND (www.textxtnd.de) in Kooperation mit basis Frankfurt e.V. (www.basis-frankfurt.de)

Oliver Augst: Musik, Stimme / John Birke: Text, Stimme / Marcel Daemgen: Musik, Sampling, Electronics / mit den Stimmen von Nicole Horny und Andreas Wellano,
Liedern von Gustav Mahler, Thomas Desi und einer original Männerchor-Komposition, Romanauszügen und Originalzitaten von Karl May
"Ich muss selbst zum Märchen werden" (Dr. Karl May)

 

VERSCHWINDEN / 2007
EMT / John Birke
Koproduktion FFT Düsseldorf, Sophiensaele Berlin, Brut Wien und TEXTxtnd Frankfurt, realisiert mit den Mitteln der Kulturstiftung des Bundes.
UA 27.9.2007 / FFT / Düsseldorf / D

Oliver Augst (Stimme/Electronics/Bühne)
John Birke (Text/Stimme)
Marcel Daemgen (Sampling/Keyboars/Electronics)
Thomas Dézsy (Orgel/Liedkomposition)
Michaela Ehinger (Stimme/Schauspiel)

Ein Mann ist verschwunden. Wurde er entführt? Ermordet? Hat er sich abgesetzt? Oder irgendwie aufgelöst, in eine Parallelwelt verflüchtigt?

ICH / 2006
EMT / John Birke
Koproduktion Steirischer Herbst und Künstlerhaus Mousonturm Frankfurt
UA 5.10.2006 / Steirischer Herbst / Graz / A

Oliver Augst (Stimme/Electronics/Bühne)
John Birke (Text/Stimme)
Michaela Ehinger (Stimme)
Marcel Daemgen (Electronics/Sampling)

Sie sehen und hören einen Ausschnitt aus einem wahrhaftigen Langzeitprojekt, eigentlich einem Endlos- oder Lebensprojekt. Es geht (gestern, heute und morgen, und in Zukunft) um ICH als work in progress. Die Arbeit an ICH fängt nirgendwo an und hört niemals auf.

"Reflektion über nationale Identität, historische und räumliche Situationen." (Der Standard)
"Ziemlich originell: Ein Gewirr aus Stimmen, Klängen; ein Drama ohne Schauspiel." (Kronen Zeitung)
"So und nicht anders" (Frankfurter Rundschau)

Presse
Info kurz
Info lang
Foto
Film

 

 

 



 

 

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