MEGAFON
BERLIN 2000
Projektskizze
von Oliver Augst, Camilla Fehér, Sylvi Kretzschmar April 2007
NACHHALL
Wer heute als Künstler in den Sophiensälen arbeitet, ist mit einem
Gebäude als Abbild von Geschichte, als Spur historischen Wandels konfrontiert.
In der Zeit der Weimarer Republik waren die Säle Ort bedeutender politischer
Veranstaltungen der Arbeiterbewegung. Im Virchowsaal fand die erste Kundgebung
des Spartakusbundes mit Rosa Luxemburg und Wilhelm Pieck als Rednern statt.
Karl Liebknecht, Clara Zetkin, Ernst Thälmann, Erich Weinert, Erich
Mühsam traten hier als Redner vor die Arbeiterschaft. Die Sophiensäle
sind kein neutraler Theaterraum. Es ist ein beredter Ort, zu dessen Sprache
sich jede Aufführung verhalten muß und sei es in bewusster Abgrenzung
von ihrer Dimension als Repräsentant berliner und deutscher Geschichte.
Die bevorstehende Renovierung des Gebäudes nehmen wir zum Anlass, in
einer site specific work die Resonanz dieser Mauern hörbar zu machen
und das zu verstärken, was also in jeder künstlerischen Produktion
des Hauses mitschwingt.
CHORUS
Als Material interessieren uns die sogenannten Arbeiter- Sprechchöre,
die vor und nach politischen Ansprachen von den Arbeitern intoniert wurden
sowie das Arbeiter-Lied. Die Form agitatorischer Sprache, ihre rhythmisch-musikalische
Bewegung (welche politische Aufklärung mit rauschhafter Sinnlichkeit
verstärkt wie mit einem überdimensionierten Gitarren-Amp), trifft
hier auf das theatrale und rituelle Potential der chorischen Form.
Entsprechend unserer verschiedenen künstlerischen Ansätze als drei
eigenständige Künstler-Persönlichkeiten mit zum Teil dissonanten
Erfahrungen und Interessen transformieren wir Text in sehr unterschiedliche
Aggregatzustände. In diesem alchimistischen Vorgang begeben wir uns
in ein Reich zwischen Dokumentation und Fiktion, in dem es weniger darum
geht, das Material zu werten oder zu einer heutigen und gemeinsamen Aussage ÜBER
dieses Material zu gelangen. Stattdessen vergegenwärtigen wir uns den
Raum, in dem wir uns befinden, mit den Mitteln von (elektronischer) Musik,
Tanz, Performance und Video/ Installation. Eine dokumentarische Séance
eröffnet die Möglichkeit, dass wir von dem Material ergriffen
werden, bevor wir es begreifen.
VERZERRER
Der Blick auf die deutsche Arbeiterbewegung ist mehrfach überlagert
und verstellt von Idealisierungen, Mythen und ideologischen Interpretationen.
Es könnte spannend sein, die eigenen unterschiedlichen Biografien, die
zu subjektiven Geschichtsbildern führen, in die Recherche einzubeziehen.
Zum Beispiel steht den wenigen Zeilen, die dem Spartakusbund in den Geschichtsbüchern
von Oliver Augst und Camilla M. Fehér gewidmet waren (die im Westen
Deutschlands zur Schule gingen), der geschichtliche Wendepunkt gegenüber,
als der die Gründung des Spartakusbundes in der ostdeutschen marxistischen
Schulerziehung Sylvi Kretzschmars erschien.
RÜCKKOPPLUNG
Das Haus wurde bei seiner Erbauung für Versammlung, revolutionäre
Agitation, Bildung sowie Kultur, Sport und Geselligkeit der Handwerker und
Arbeiter konzipiert. Bis heute zeugen Bezeichnungen von Räumen wie "Festsaal" und "Hochzeitssaal" von
den Feiern, die dort stattgefunden haben. Um so tiefer und erschütternder
wirken die Veränderungen , die diese Säle im Laufe der Geschichte
durchlaufen haben, wenn sie als Werkhalle missbraucht und zum Ort der Zwangsarbeit
wurden. Die unterschiedlichen Epochen haben sich in das Gebäude eingeschrieben.
Der zugemauerte Teil der Empore des Festsaales stammt zum Beispiel aus
dem zweiten Weltkrieg, als dort internierte Zwangsarbeiter untergebracht
waren.
Aus der Suche nach einer Form, die dieser Überlagerung von Spuren
im Wandel gerecht wird, resultiert die Idee, unsere (Konzert-)Performance
mit
dem Medium der Installation zu verbinden.
Statt auf eine Aufführung als Endergebnis unserer Zusammenarbeit zu
zielen, planen wir eine offene Form des "work in progress". Nach
einer relativ kurzen gemeinsamen Probenphase vor Ort, der individuelle Recherche
und Vorbereitung der einzelnen Künstler vorangegangen sind, eröffnen
wir die Präsentation unserer Arbeit mit einer Aufführung, die
formal Elemente eines Konzertes tragen wird.
Nach dieser ersten Aufführung wird der Raum jedoch nicht, wie im Theater üblich,
in seinen Urzustand "zurück gesetzt", damit die selbe Aufführung
wieder von vorn beginnen könnte. Im Gegenteil wird es in der Live-Performance
gerade um eine Transformation des Raumes gehen.
In den nächsten Wochen soll die entstandene Installation für Publikum
begehbar sein. Die Besucher anderer Veranstaltungen in den Sophiensälen
könnten vor und nach Aufführungen die Möglichkeit haben, die
Installation zu sehen und zum Beispiel herumliegende Texte zu lesen, mit
denen wir zuvor gearbeitet haben. Das Medium der Installation ist hier als
Spur der Performance gedacht und wird durch Ton- und Videospuren ergänzt.
In diesen Arbeits-Raum kehren wir nach einigen Wochen zurück für
eine weitere Aufführung, die den Raum erneut verändert, die Spuren
der ersten Aufführung unleserlich macht, verwischt und verwandelt. Die
Performance ist dann als Fortsetzung und Entwicklung anstelle von Wiederholung
gedacht. Es entsteht eine neue Installation. Statt den Proben- und Arbeitsprozess ästhetisch
zu verstecken, geht es uns darum, ihn auszustellen und uns auch über
unseren eigenen Begriff von Arbeit der Bedeutung des Hauses zu nähern.
DELAY
Für die Installation wird eine Video-arbeit komponiert werden, die visuell
und akustisch auf die Bewegungen,Versuche und Proben reagiert, die während
unseres Aufenthaltes in den Sälen stattfinden. So können neue Aspekte
belichtet und andere Zusammenhänge erstellt werden als in einer Live-Performance.
Durch den Abstand zur eigenen Probenarbeit werden wir selbst zum Dokumentationsmaterial.
Schnelle Cuts und Zeitraffer könnten unsere vergangene Probengeschichte
in eine Video-Choreographie verwandeln.
Nach unseren Live-Auftritten/Performances wird das Videomaterial -einem
Abzug gleich- mit den Resten unserer Arbeit zu einer weiteren Schicht in
einem überlagerten
Raum.
SCHWINGUNGEN
Neben Texten, Manifesten und Worten war immer auch der Körper Träger
revolutionärer Bewegungen, politischer Umbrüche und historischer
Veränderung. Welche Gesten und Schritte können wir fortführen
und zu Ausgangspunkten für neue Bewegung machen? Vielleicht können
wir unsere Körper zu Sensoren machen für vergangene Aufführungen,
Theaterproben, Tanztrainings, Diskussionen, rauschende Feste in diesen Räumen,
für Erschöpfung und Zwangsarbeit, Erschütterungen, Aufruhr
und revolutionären Aufbruch, die hier stattfanden.
MATERIAL
Sprechchortexte beispiele
Ernst Toller:
Kantate nr 8. Schüttelrutsche
Schüttelrutsche,
Schüttelrutsche,
Flutsche Arbeit,
Arbeit Flutsche!
Wracke, hacke!
Hacke, Wracke!
Immer wieder!
Immer weiter!
Immer wieder!
Immer weiter!
Bleckt die weißen Zähne
Bild
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