Worten / seit 2005
Wenn es im November nass, kalt und neblig wird und sich das intensiv genutzte Land im dämmrigen Licht entleert, wandern die beiden mit Regenschirm und wärmender Mütze ausgerüstet von Dorf zu Dorf, von Gasthaus zu Gasthaus und begegnen einem System von Spuren und Zeichen, das durch die Abwesenheit ihrer Verursacher ein Eigenleben zu entfalten beginnt. Begriffe auf Wegweisern, Schildern und Landkarten erzählen von dem Dachs, der hier seinen Bau hatte, von dem weissen Haus, das im dicht bebauten Vorstadtquartier nicht mehr auszumachen ist und von der Rodung, die eigentlich einen nahen Buchenwald vermuten liesse. Ein Gedenkstein bezeichnet die Gefallenen als Helden und das Schild am Ortsausgang dankt für den Besuch und wünscht eine gute Fahrt.
Worte finden und erfinden
Oliver Augst findet unterwegs Worte. Begonnen hatte das Wortesammeln im Spessart. Ungefähr jede halbe Stunde sieht man dort am Wegrand ein weisses Schild an einem Baum, worauf in schwarzen Versalien eine Ortsbezeichnung (Losbezeichnung) geschrieben steht. Vor rund 150 Jahren wurden Forstarbeiter beauftragt Waldabschnitte zu benennen und zu beschriften. Wo Flurnamen fehlten, entstanden oft eigenwillige Wortschöpfungen, die eine Landschaft regelrecht zu verzaubern vermögen. In einem mitgeführten Büchlein ergibt sich aus der Route das Gedicht: 'Molkenbrunn - Schneidgrund - Hoher Knuck - Kehrberg - Jagdrain - Königsstand', oder 'Moosklinge - Kurve - Springrain - Finstereck - Dachsberg - Strutt'.
Reto Friedmann erfindet Worte. Diese Worte sind nirgends festgemacht, an keinem Baum, auf einer Karte und in keinem Wörterbuch. Es sind die Worte, die dann fehlen, wenn die Antwort auf ein 'wie war es denn beim Wandern?' in einem 'schön' oder gar 'sehr schön' gipfelt. Hilflos fügen wir dann die schöne Aussicht über die Rheinebene an und erzählen vom milden Wetter, das sich am Nachmittag aber leider etwas zuzog. Das Wandern selbst gelangt kaum zu einer Begrifflichkeit und wird demzufolge selten mitgeteilt. Dabei beschäftigte uns das Gelände 'obabdadort', 'handquerum' oder 'saumsam', wir peilten mit Hilfe der Landkarte einen bezeichneten Punkt an 'alsobzumworteindort' oder wären vielleicht lieber woanders gewesen 'zudirlieberwieder'.
Worte aufführen
Über die Jahre hinweg bildete sich aus den gefundenen und erfundenen Worten ein regelrechter Wortschatz. Mit diesen Worten im Gepäck treffen sich Oliver Augst und Reto Friedmann zum 'worten', zu Lesungen, Aufführungen und Installationen. Mit 'worten' führen sie minimal ihre Worte auf, am Radio oder vor Publikum. Sie schicken die Worte auf Wanderschaft und lassen sie einander begegnen. Auswahl, Reihenfolge, Gruppierung und Abstände der zwei Wortreihen ergeben die Koordinaten des Zusammentreffens oder des Verpassens.
Der Fundus an Worten ist in Fluss. Es kommen Fundstücke hinzu, andere werden verworfen, es fallen Worte ein und andere durch. Es wird neu aufgemischt oder anders getacktet. Gewortet wird jedesmal neu.