ICH / 2006
Mega-Ego und Wir(r)sal. Zu EMT/Birkes ICH - Vier Stimmen. Von Steffen
A. Schmidt, Zürich
Der neue Sturm erbraust im bewegten Ich. Ausgesandt
ist es als Zeit, in ihm stürmen die Dinge dahin, ihm entgegnend in ihrer fernenden, demütigen
Richtung, dahin zur Mitte des Abstandes, zum Schosse der Zeit hin, von da
das Ich erstrahlte. Und Schicksal ist: diese Gegenbewegung der Dinge in der
Zeit des Ich. … der
Dinge Vergangenheit ist die Zukunft der Ich-Zeit. W.
Benjamin
Er war ein Gefangener seines Ich. Er war es als Kind und auch als Greis. H.
Wohlgschaft
Ich/Wir
Ein bedeutendes Paradigma des ästhetischen Diskurses der vergangenen
Jahrzehnte war und ist die Entgrenzung. Gegenwärtig, in einer Zeit der
künstlerischen Intermedialität - pejorativ als Verfransung (Adorno)
und als anything goes verzeichnet - stellt sich vielleicht dringender die
Frage nach Grenzziehungen, deren Verschiebungen und Überschreitungen
(der Irakkrieg als das schlagendste Beispiel aus der Politik), ganz grundsätzlich
die Frage nach Identität. Anstatt also eine Entgrenzung per se zu feiern,
wird es notwendig, auch im ästhetischen Denken Prozess und Voraussetzung
einer Entgrenzung in den Blick zu bekommen. Unter welchen Voraussetzungen
wird es etwa sinnvoll, von Ich, Du, Wir und Ihr, Er und Sie zu sprechen.
Die Grenzziehung beginnt bereits bei der Konstitution des Ich, bei dem sich
in Anschluss an Freud und Lacan Eigenes und Fremdes durchdringen. Bernard
Waldenfels, aus der phänomenologischen Tradition Merleau Pontys kommend
und an dessen Leibphilosophie anknüpfend, beschreibt das Ich als "… synchrone
Dichte der Gegenwart", ein " … mehr als die Zweistimmigkeit
eines Dialogs …", in dem "eigene und fremde Stimme sich überlagern
und durchdringen, dass sie sich verstärken und miteinander streiten,
und dies im Sinne des … Chiasmus zwischen Eigenem und Fremdem."
Wie aber können hier Unterscheidungen zwischen Eigenem und Fremdem getroffen
werden, ist es überhaupt möglich und notwendig, hier zu unterscheiden?
Im Zeitalter globaler Vernetzung, die von einer generellen Öffnung gegenüber
dem Fremden begleitet ist, stellt sich zugleich das Problem, den Eindringling
zu entlarven - und dies bereits im Individuum. Das Erkenntnisinteresse verschiebt
sich zugunsten einer paranoiden Fragestellung, bei der die Feststellung von
Identität gleichermaßen prekär wie unumgehbar zu sein scheint.
So komplex und vielstimmig die Entstehung des Ich psychologisch gesehen ist
- über das Spiegelstadium Lacans während der Kleinkindphase, in
dem eine noch nicht vorhandene Ganzheit des Individuums vorweggenommen wird
bis zu dem Zeitpunkt, wo das Kind lernt ein Ich zu sagen, und ein Du anzuerkennen
- wie problematisch wird die Situation erst bei der Konstitution eines Wir,
zumal dieses Wir zusätzlich durch soziologische und weitere geschichtliche
Aspekte geprägt ist?
Psychologisch allerdings geht das Wir dem Ich voraus, während der Symbiose
im Säuglingsalter mit der Mutter, das "Ur-Wir", wie es in
Adlerscher Individualpsychologie postuliert wird. Das Ich erfährt sich
nie als Ganzheit, sondern als abgesprengter Teil, der zwar überlebensfähig
ist, aber immer schon als defizitärer Modus existiert. Im Moment des
Wir-sagen könnens wird die Begrenzung des Individuums ein Stück
weit überwunden, getragen von einer wie auch immer gearteten symbiotischen
Gemeinschaft (sehr deutlich im Slogan der Love-Parade: "We are one family").
Die Grammatik von Singular und Plural wird im Vorbewussten aufgehoben.
Dass derartige psychische Gegebenheiten mit ideologischen Horrorszenarien überwuchert
sind, ist nach wie vor präsent. Die Problematik des Wirsagens ist zwar
in bestimmten Zusammenhängen nicht nur evident sondern auch modisch
- vor allem in merkantilen Kontexten, wo ein Team eine Dienstleistung anpreist,
aber auch bei Autoren, die ein Wir majestätisch vorausschicken - dennoch
ist die Scheu vorschneller Inanspruchnahme Anderer ein Zug, der die Nachkriegsgeneration
besonders traf. In Deutschland wurde anlässlich der Fussball-WM 2006
als wohltuendes Ereignis gewertet, einen wirhaften Nationalstolz in gemässigter
Form betreiben zu können. Der Slogan aber "Die Welt zu Gast bei
Freunden" wirft noch ein deutliches Licht auf die Scham und auf das
Monströse, die mit der Nation verbunden sind: Die Freunde werden der
Welt gegenübergestellt, sie sind gleichsam extraterrestrisch.
Anstelle des Wir setzte sich in der Nachkriegszeit über Jahrzehnte hinweg
das Ich, das sich gleichsam zum unbenannten, aber machtpolitischen Wir ausdehnen
mochte, zu einer Art Mega-Ego, wie es bei Künstlern, etwa in der musikalischen
Avantgarde nicht nur Deutschlands sondern in der westlichen Welt generell
offensichtlich wurde.
So problematisch es ist - oder war - "wir" zu sagen, so schwierig
ist es in der Psychologie, das Ich vom Wir abzugrenzen, dessen Voraussetzung
es ist. Aber worin besteht der Unterschied, wenn ein Ich, das spätestens
seit Freud nicht allein ist und bereits Wir sagen müsste, "gespalten" ist
in andere Ichs, gegenüber einer Gruppe, die Wir sagen müsste, aber
permanent Ich sagt (wie in der real exisiterenden gegenwärtigen Demokratie
oder gravierender noch in totalitären Systemen)? Beiden Spielarten fehlt
die Fähigkeit der Synthese, aber sind beide auch gleichwertig pathologisch,
so wie das Spalt-Ich als schizophren eingestuft wird? Und würde es der
krankhaften Neigung Abhilfe leisten, wenn das gespaltene Individuum "Wir" sagen
könnte - wenn etwa Karl May, der in den 1860er Jahren mindestens drei
Stimmen in seinem Inneren zu vernehmen meinte, anstatt von unabhängigen
Eindringlingen auszugehen, von einem inneren Gruppenverhalten hätte
sprechen können, so wie es ihm Jahrzehnte später gelang, als er
vor der Gattin des österreichischen Thronfolgers trat und sagte: " Kaiserliche
Hoheit, soll ich als cow-boy oder als Schriftsteller die Unterhaltung führen"?
Und später: "Ich bin wirklich Old Shatterhand resp. Kara Ben Nemsi
und habe erlebt, was ich erzähle …" Das "Wir" im "Ich" und
das "Ich" im "Wir" spiegeln ein inneres Gruppenverhalten
des Individuums (und umgekehrt spiegelt die Gruppe ein individuelles Verhalten),
die bestimmte soziale Organisationsmuster reproduzieren oder evozieren.
"Wir haben den Anti-Ödipus zu zweit geschrieben. Da jeder von uns mehrere
war, ergab das schon eine ganze Menge. … Wir haben raffinierte Pseudonyme
verteilt um Unkenntlichkeit zu erzeugen. Warum wir unsere Namen beibehalten
haben? Aus Gewohnheit, aus blosser Gewohnheit."
Wir und Ich stehen sich nicht prinzipiell getrennt gegenüber, es ist
ihre Bewegung, die sie als Gegensätze definiert: Während das Ich
vom Einzelnen in die Pluralität übergeht, tendiert das Wir dazu,
das Plurale zum Singulären zu versammeln.
Improvisation
"Sollte es eine Wahrheit geben, die als Irrsal verstanden werden kann?
Sind wir fähig, die Wahrheit im Ganzen als "göttliches Irrsal" zu
denken?"
G. Agamben
Auch als "kreativen Rettungsversuch", als ein therapeutisches Mittel,
so vermutet der Biograf Hermann Wohlgschaft, komponierte in seiner Krisenzeit
der 1860er Jahre Karl May vor allem Chorgesänge, u.a , für achtstimmigen
Chor "An die Sterne", oder ein Ave Maria der Gondolieri am Traghetto
dell' Salute" für vier Stimmen. Nach einem Wort Adornos ist das "Wir" in
polyphoner Musik eingeschrieben. Ein Wir, in dem die Widerspenstigkeit des
Einzelnen ebenso substantiell am Gemeinschaftlichen der Stimmen beteiligt
ist (Kontrapunkt), wie zugleich auch in der prästabilierten Harmonie
zur Ruhe gebracht. Das Wir sagt Ich, das eine ist im anderen aufgehoben,
homogenisiert.
So weit die Sprache und Erkenntnis des (tonalen) Werks. Wie aber die Situation,
wenn sich einzelne Stimmen nicht dem harmonischen Gesetz der musikalisch
harmonischen "Gesellschaft" fügen, stattdessen ein Eigenleben
entwickeln, das der Zeit nicht sich enthebt, wenn also die Spur des momenthaften
Ausbrechens am Ereignis klebt, wenn, wie gelegentlich in Bachs Fugen, der
Kontrapunkt seine Herrschaft in Form einer Halsstarrigkeit des Stimmlichen
gegenüber dem Harmonischen behauptet? Ebenso durchgeistigte Schönbergs
Atonalität den Widerstand der Stimme gegenüber dem harmonischen
Gefüge, des Einzelnen gegenüber dem Kollektiven: Werk als Vermächtnis
von Individualität, und als Krise des Zusammenspiels von Ich und Wir.
Doch verbleibt im Werkdenken die Annahme des gesellschaftlichen Soseins,
spiegelt den gedanklichen Entwurf im Idealen - mag dieses noch so morbide
sein. Dagegen behauptet die Improvisation eine andere Praxis, stellt sich
dem Moment, um im nächsten zu verschwinden. Erneutes Auftauchen bedeutet
dabei immer ein anderes Erscheinen, das dem Zeitpunkt stärker Rechnung
trägt als der Werkfels in der Brandung. Damit einher geht in der Improvisation
ein massiveres Ich , das sich zumeist stärker behauptet als das Wir,
indem es stilistisch Eigenständigkeit erhebt, sich gerade nicht dem
werkhaften Materialdenken unterwirft, sondern, hier vergleichbar mit Atonalität,
die problematische Zone von Ich und Wir permanent abschreitet. Improvisation,
handelt es sich um den sozialen Akt einer Gruppe, konstituiert sich im quasi
sprechenden Dialog, nicht unbedingt als herrschaftsfreier Dialog sondern
als ein Herrschaft austragender Dialog, eines gelegentlich ungehemmten An-die-Wand-Spielens,
Nicht-zu-Wort-Kommen-lassens, eben die Defekte des Miteinander thematisierend,
die Rachmaninow wohl eher ungewollt im Trio elegiaque einkomponiert, ein
Bandleader wie Josef Zawinul dagegen sehr bewusst eingesetzt hat. Das Zuhören
Roland Barthes im Sinne eines "Höre mir zu", als Resonanz
dessen also, was sich somatisch unbewusst ereignishaft mitteilt, wandelt
sich bei der Improvisation in "Höre uns zu", wie nach den
Gesetzen musikalischer Kommunikation eine Gruppe entsteht. Eine Gruppe allerdings,
die nicht homogen sein will, sondern auf dem Primat des Ichs beharrt, um
nur in bestimmten Momenten und vorübergehend zum Wir zu verschmelzen.
Improvisierte Musik und improvisiertes Theater besitzen den Vorzug, das Heterogene,
die unbeugsame Selbständigkeit der Stimme ausdrücken zu dürfen,
in Gesten des sich Sträubens, sich Verweigerns, des Andersseins. Um
es mit Gumbrecht zu sagen, partizipiert Improvisation mehr an einer Präsenzkultur
als an einer Subjektkultur. Der improvisierende Musiker repräsentiert
und behauptet auch immer seinen Körper gegenüber der Gruppe, er
stellt ihn aus und dieser kann für sich genossen, kaum aber werkhaft
funktional interpretiert werden.
Aus der Nähe zur Präsenzkultur erwächst auch die Affinität
der Improvisation zum Sport, zum Spiel, zur offenen Form. Das plötzliche
Entstehen ungeahnter Spielzüge ist jeder gelungenen Improvisation inhärent,
jener geheimnisvollen Mischung von Geübtem und Spontanem, wo die Abweichungen
von Millimetern in Raum und Zeit einen Komplex gestalten, der jeder Notier
- und Planbarkeit trotzt, im Gelingen ebenso wie im Scheitern.
Kaum ein anderes Feld kann die Problematik von Ich und Wir besser aufwerfen
als der Mannschaftssport, aus dem auch das Idealbild des gegenwärtigen
Wir resultiert, das "Team", als "Dream-team".
Das Team-Wir hat mit dem früheren vorbewussten Symbiosen-Wir kaum etwas
zu tun. Im Team sind die verschiedenen Funktionen klar verteilt. Ein Verteidiger
beim Fussball, der seine Funktion nicht kennt, ist kein Verteidiger. Ein
Kind, das seine Funktionen kennt, ist kein Kind. Die Erkenntnis eigener Funktion
ist hier entscheidend und für Friedrich Schiller war es die Vermittlung
durchs ästhetische Spiel, die den Einzelnen zu einem sinnvollen Glied
im Staat machte. Dem Idealbild des Staatengebildes als Team, bei dem sich
die Individuen als Mitglieder verstehen, dürfte trotz viel beschworener
Demokratie kaum Einem gegenwärtig sein. Dementsprechend wird es umso
dringender, Vereinigungen zu gründen, in denen ein Wir existent, ein
Band von Gruppe und Individuum real ist. Schon Musil benannte das angehende
20. Jahrhundert als das Jahrhundert der Vereine. An dessen Ende und im beginnenden
21. Jahrhundert sieht sich die gesellschaftliche Entwicklung konfrontiert
mit der Gründung virtueller Gemeinschaften (Howard Rheingold: virtual
communities), für die kennzeichnend ist, dass sich erstens das Mitglied
als körperliche Präsenz entzieht, zweitens sich ein hierarchisches
System etabliert, das der "mudder" anerkennen kann; und drittens
schliesslich, dass sich die Individuen an der Überschreitung von Identität überhaupt
versuchen. Kann der real exisitierende politische Staat kaum eine für
Jeden nachvollziehbare Ordnung aufstellen, so beginnt die Suche nach Gemeinschaften,
deren Wertesystem rigide, aber einsichtig sind. Darin sind sich Fussball
und virtuelle Gemeinschaften ähnlich und weichen vom staatlichen Gebilde
ab.
Es wäre jedoch illusorisch, das Team-Wir vom Symbiosen-Wir vollständig
abkoppeln zu wollen. Ebenso wie das imaginäre infantile Ich mit dem
symbolischen Ich hadert, so bestehen Überschneidungen von Funktion und
Begehren im Wir. Gerade aus der Überschneidung resultieren wiederum
die multiplen Identitäten, die sich in verschiedenen "Communities" etablieren.
Das einstige Mega-Ego der Nachkriegszeit, das sich seine Identität durch
Eroberung des Territoriums (Publikum, Institution) sicherte, wandelt sich
gegenwärtig zum Meta-Ego, das durch permanente Maskierung und Vervielfältigung
vom WirIch in verschiedenen Teams zum Symbiosen-Wir vordringen möchte.
"Ach könnt ich doch, nur ein einziges Mal, die Uhren rückwärts
drehn."
Popsong: Wolfsheim/Kein Zurück (2003)
Spiel
Das Symbiosen-Wir aber ist, nicht anders als der Schatz im Silbersee oder
Wagners Rheingold, von den Fluten der Zeit überschwemmt. Und wie Moses
die Fluten teilte und dem Volk Israel den Exodus aus Ägypten ermöglichte,
so wird dieses Urszenario nachgestellt in den Akten der Improvisation, bei
denen sich das Zusammenspiel als plötzliche und ungeahnte Öffnung
von Raum - und Zeitmauern erweisen .
Improvisation akzentuiert gegenüber der Interpretation das Moment des
Spielerischen. Während Werkmusik das Rituelle hervorhebt, wandert Improvisation
im Gebiet des Alltäglichen, arbeitet mit Formeln, mit deren Gebrauchswert.
Improvisation steht nicht in der Tradition einer Fortschreibung des Neuen,
vielmehr im Zeichen der "bricolage" im Sinne von Levi-Strauss: " … Wie
die "bricolage" greift das Spielzeug auf "Bröckel und
Versatzstücke zurück … So verwandelt auch das Spielzeug alte
Signifikate in Signifikanten und umgekehrt. Aber in Wirklichkeit wird nicht
nur mit diesen Bröckeln und Versatzstücken gespielt, sondern … mit
ihrer Bröckelhaftigkeit selbst …" . Darin erkennt Agamben
das "Historische im Reinzustand … dass das Spiel jenen Bezug zwischen
den Gegenständen und den menschlichen Verhaltensweisen herstellt."
Gelangt die Technik der Improvisation durchs Spiel ins Reich des Kindes zurück,
so war der Weg Karl Mays durch seine literarische Praxis in seinem virtuellen
Kosmos ebenso ein rückwärtiger Gang in der Ichzeit, ein Spiel mit
der eigenen Geschichte und dem eigenen Schicksal. Als hätte es zu seiner
Zeit die virtual communities schon längst gegeben, vermochte May in
seine Figuren einzutreten und wusste sich kaum noch von ihnen zu unterscheiden.
Sein Geniestreich bestand nicht so sehr im Verfassen eines literarischen
Werkes, sondern in der "Kanalisierung" zahlloser Ichstimmen in
ein erzählerisches Wir. Nach seiner Sträflingszeit zu Beginn der
70er Jahre gelingt May der glanzvolle Aufstieg und er weiss sich hier bei
seiner produktiven Tätigkeit nicht allein. Weniger ist es die Erinnerung,
die sein imaginäres WirIch aufruft, sondern das Virtuelle:
"… indem ich hier an meinem Tische sitze und diese Zeilen niederschreibe,
bin ich vollständig überzeugt, dass meine Unsichtbaren mich umschweben
und mir, schriftstellerisch ausgedrückt, die Feder in die Tinte tauchen."
Die wirre Polyphonie der inneren Stimmen hatte sich zum breiten erzählerischen
Strom im Werk homogenisiert und doch war das Werk nicht Ausdruck des WirIchs,
wie May es gerne in der zweiten Ave Maria-Komposition von 1897, veröffentlicht
im Hausschatz, auskomponiert hätte. Die Virtualität der Gemeinschaft
seines Ich als Darstellung blieb aus. May, der stets behauptete, seine Geschichten
und Figuren seien wahr, um schliesslich mit einer Orientreise, die medial
gründlich inszeniert war, eben das Wahr-Unwahre zu beweisen, konnte
sich die "virtuelle Wahrheit seines Ego-Bildes" nicht eingestehen.
Jene innere Stimme, die bei Schumanns Humoreske zuerst denkend mitkomponiert
ist und am Ende wegfällt - damit das Fehlen des fehlenden selbst zum
Ausdruck bringend - kann bei May nur hervortreten, indem sie durch Auslassung
ins Virtuelle einkehrt und damit zur -fehlenden - Präsenz des Realen
wird.
Vorher und Nachher berühren sich, ohne kreisläufig ineinanderzulaufen.
Das Ich, das seinen Namen empfängt und auf diesen Namen hört, bleibt
in seinem Kern namenlos, anonym. Strenggenomen ist das Ich niemand, da es
sich immer nur indirekt erfassen lässt.
Literatur:
Giorgio Agamben: Kindheit und Geschichte. FfM 2004
Ders.: Wahrheit als Irrsal, in: Kiesow/Schmidgen (Hg.): Das Irrsal hilft.
Berlin 2004
Roland Barthes: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. FfM 1990
Walter Benjamin: Metaphysisch-geschichtsphilosophische Studien, GS, Bd II-I,
FfM 1991
Julio Cortázar: Rayuela. Aus dem argentinischen Spanisch von Fritz
Rudolf Fries: FfM 1987
Walter Fähndrich (Hg.): Improvisation V. Winterthur 2003
Hans Ulrich Gumbrecht: Lob des Sports. FfM 2005
Samuel P. Huntington: Kampf der Kulturen. München Wien 1996
Wolfram Knauer: Improvisieren … Darmstädter Beiträge zur
Jazzforschung Bd. 8 Hofheim 2004
Bartola Malgorzata, Stefan Schroer: On Improvisation. Nine Conversations
with Roberto Ciulli. Lang Bruxelles et. Al. 2003
Hans Ulrich Reck: Vom regulären Spiel der Einbildungskräfte zur
Suggestivität des offenen Kunstwerks. Aspekte zu einer Kunstgeschichte
des Improvisierens. In: Fähndrich, S. 61-98
Michael Rüsenberg: Improvisation als Modell wirtschaftlichen Handelns.
Eine Erkundung. In: Knauer, S. 201-215
Bernhard Waldenfels. Idiome des Denkens. FfM 2005
Peter Niklas Wilson: Neue Paradigmen in der improvisierten Musik in Knauer
S. 216-232
Hermann Wohlgschaft: Karl May. Leben und Werk. Celle 2005
Hans Wollschläger: Karl May. Göttingen 2004
Slavoj Zizek: Die politische Suspension des Ethischen. FfM 2005
Film (Ausschnitt, Steirischer Herbst , Graz/A, 2006)
Film (Teil 1-6, Mousonturm, Frankfurt, 2006)
Publikationen
von John Birke in der Zeitschrift "Lichtungen"
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