THE
WHOLE WORLD IS WATCHING / 2007
In den 80er Jahren drehte der Künstler Raymond Pettibon zusammen mit
ein paar Kumpels von der Punkband Sonic Youth ein Homevideo über die
amerikanische Terrorgruppe der sechziger Jahre: The Whole World Is Watching:
Weatherman ‘69.
Dieses obskure Relikt des amerikanischen Underground ist eine aberwitzige
und traurig-melancholische Reflektion auf die untergegangenen Utopien der
linksradikalen Studentenbewegung zwischen Gewaltexzessen und Sex, Drugs and
Rock'n'Roll. Mit einer Reihe von spektakulären Bombenattentaten, bei
denen niemand außer ihren eigenen Mitgliedern ums Leben kam, wurde
die aus dem weißen, mittelständischen Oststaatenmilieu stammende
Weatherman Bewegung zur schillerndsten und berüchtigsten Splittergruppe
des universitären Widerstands der 60er Jahre.
Die von Pettibon verfassten Dialoge bilden einen über 50 Seiten langen
Textkörper, bestehend aus Alltagsvignetten aus dem Untergrund, anarchischer
Propaganda, popkulturellem Treibgut und ausufernd verzweigten Reflektionen.
Wie beiläufig hingeworfene absurde Dialoge wechseln sich ab mit monolithischen
Textblöcken. Mit einem Personal von über zwanzig teils fiktiven,
teils historischen Figuren zeichnet der Text historische Begebenheiten und
Begegnungen mit popkulturellen Berühmtheiten, wie Jane Fonda und John
Lennon, und den ganz alltäglichen Wahnsinn im Untergrund nach.
Zwanzig Jahre später greift Oliver Augst diese Texte als Libretto auf
und bringt Raymond Pettibon mit Schorsch Kamerun und der japanischen Noise-Legende
Kejij Haino zunächst für eine Musical-Bühnenfassung und nun
für die Hörspielversion zusammen. Es ist die dritte Zusammenarbeit
von Oliver Augst und Raymond Pettibon.
The Whole World Is Watching nähert sich seinem historische Gegenstand
aus mehreren Perspektiven, und zwar ausgehend von den unterschiedlichen künstlerischen
Biographien und Herangehensweisen der vier Künstler, Pettibon, Kamerun,
Haino und Augst. So entsteht ein hybrides Monstrum der Zeitgeschichte, zusammengesetzt
aus Popsongs, Slogans, Staridentitäten und den eigenen Wunsch- und Angstvorstellungen
in einer gewalttätigen Gesellschaft.
Die Geschichte des linken Widerstands und seines Scheiterns ist in The Whole
World Is Watching kein Festkörper mit klaren Konturen der sich dem Zugriff
entzieht sondern ein Prozess der Identifikation und der Imagination. Bereits
in Pettibons Text aus den 80er Jahren sind die 60er und 70er ein wüstes
Konglomerat aus Anekdoten, popkultureller Nostalgie und historischen Slogans,
ein hybrides Gemisch aus historischem, imaginiertem und persönlichem.
Bricolage.
The Whole World Is Watching wechselt permanent zwischen Popsong und Noisegewitter,
Improvisation und Lektüre, Erinnerung und Kreation, Ensemble und Individuum.
Interferentielle Geschichstschreibung (Jacques Le Goff), Trauerarbeit und
Bestimmung der eigenen historischen Position.
Mitwirkende:
Gesang: Schorsch Kamerun, Keiji Haino
Sprache:
Junge / Erzähler / John Lennon: Raymond Pettibon
Billie Jean "Junebug" Sweetness / Gabe Nemisch / Bernadine Dohrn
/ Carnip Goldberg Yoko Ono / weitere Textfragmente (Mao, Brecht, Weatherman
Kommuniqués): Michaela Ehinger
Mr. Desperado / Jeff Jones / Twiggy Beausoleil / Textfragmente (Timothey
Leary): Oliver Augst
Instrumente:
Schlagzeug, Gitarre: Keiji Haino
Live-Elektronik, Mixer: Oliver Augst
Sampling und Live-Elektronik: Marcel Daemgen
Dramaturgie: Jan-Philipp Possmann
Ü
bersetzungen aus dem englischen Originaltext: Jan-Philipp Possmann, Claudia
Schlicht
Live Klang-Regie: Norman Duncan Thoerel
Produktionsleitung: Anne Schulz
Koproduktion zwischen hr Hessischer Rundfunk Frankfurt (hr2 Hörspiel),
Sophiensaele Berlin, Galerie CFA Berlin und TEXTxtnd, gefördert durch
das Amt für Kultur und Wissenschaft Frankfurt, realisiert mit den Mitteln
der Kulturstiftung des Bundes. In Verbindung mit MaerzMusik | Berliner Festspiele
Beteiligte
Künstler
The Whole World Is Watching arbeitet gezielt mit der Einbindung verschiedener
Künstlerpersönlichkeiten, die durch ihr Werk und ihre Biografie
spezifische historische und gesellschaftliche Kontexte repräsentieren.
Diese über die Künstler repräsentierten Kontexte werden als
historische Materialien verstanden und als formale Metaphern mit in die Komposition
eingebunden.
Raymond Pettibon wurde erstmals durch seine Plattencover für
das amerikanische Westcoast Punklabel SST bekannt, über das er zunächst
auch seine seit 1978 herausgegebenen Künstlerhefte vertrieb. Zuerst
hauptsächlich einer subkulturellen Öffentlichkeit bekannt, hat
Pettibon längst in renommierte Institutionen vom Museum of Contemporary
Art in Los Angeles bis hin zum Museum of Modern Art in New Yorker oder zur
Documenta Eingang gefunden.
Eines von Raymond Pettibons ersten Themen war die Kritik der Subkultur der
60er Jahre und deren letztlich fehlgeschlagenen Auflehnung gegen die Autorität
ihrer Väter. Seit Mitte der achtziger Jahre arbeitet Pettibon obsessiv
an seinem Universum aus Kombinationen von Bild- und Textfragmenten. Es umfasst
neben Videofilmen, Texten, Musik und Plattencovern (u.a. für Sonic Youth,
Black Flag- und Minutemen) vor allem Tausende von s/w Zeichnungen, mit denen
er in seinen Ausstellungen die Wände fast komplett bedeckt. Seine textlichen
Quellen reichen von der Literatur der Moderne, wie Proust und Pound, über
die Sportberichte von Tageszeitungen, bis zu Groschenromanen, die als handgeschriebene
Textpartikel zum Bildmaterial nicht logisch, sondern "lyrisch" hinzu
assoziiert werden. Der Betrachter wird mit einem Mahlstrom aus Chiffren,
Zeichen und Texten verschiedenster Herkunft konfrontiert, die keine erkennbare
Ordnung verbindet. Pettibon illustriert gleichsam den "stream of consciousness" der
gegenwärtigen Kultur und arbeitet sich an einem kompromisslosen Portrait
des "Amerikanischen Alptraums" ab.
Pettibons Bilder und die Art, wie er Themen aufgreift, haben nichts an Aktualität
eingebüsst: Das zeigte sich bei der Documenta 2002, wo er eine den ganzen
Raum einnehmende Collage zum 11. September 2001 schuf. Dabei gelang es ihm,
mit dieser stillen und bescheidenen Arbeit das einfache Freund-Feind-Schema
zu durchbrechen und den amerikanischen Mythos der Unantastbarkeit als psychologischen
Selbstschutz zu entlarven.
"It's a mistake to assume about any of my work that it's my own voice. Because
that would be the most simple-minded ineffective art that you can make." (Pettibon
Interview)
Neben Pettibon findet die Zusammenarbeit mit Schorsch Kamerun statt, den man
als prägenden Vertreter einer deutschen Subkultur verstehen kann. Schorsch
Kamerun ist Sänger und Mitbegründer der linken Hamburger Punkband Die
Goldenen Zitronen und gemeinsam mit Rocko Schamoni Besitzer des legendären
Golden Pudel Clubs in Hamburg. Mitte der Neunziger hatte er zusammen mit Schamoni
eine Fernsehserie auf 3sat, "Pudel Overnight", die 2001 in veränderter
Form fortgesetzt wurde. Außerdem ist Schorsch Kamerun als umtriebiger Theatermacher
auf deutschsprachigen Bühnen tätig, unter anderem an der BERLINER VOLKSBÜHNE
("Eisstadt"), am SCHAUSPIELHAUS ZÜRICH ("Macht Fressen Würde")
und am STAATSTHEATER HANNOVER ("Der Chinese Im Kinderbett"). Im Juni
2005 inszenierte er bei den Wiener Festwochen die Uraufführung des Stückes "Draußen
tobt die Dunkelziffer" von Kathrin Röggla.
When you're a red you're a red all the way
From your first party cell till your class takes the state
When you're a red you will fight till you die
With a gun in your hand and an armed struggle line
(THE WHOLE WORLD IS WATCHING)
Ebenfalls in das Projekt eingebunden ist der japanische Musiker Keiji Haino. Der Stimmkünstler, Gitarrist und Schlagzeuger Haino ist einer der radikalsten Vertreter der äußerst bizarren Tokioer Hardcore Rock- und Punk-Szene. Der "große Enigmatiker unter Japans Musikextremisten" (DIE ZEIT) hat etwas dandyhaft Dämonisches. Alter und Geschlecht sind bei seinen Performances, die er stets beschützt von dunklen Sonnenbrillen zelebriert, kaum auszumachen. Der radikale Weg des "Noise-Gottes", der als Sänger und Performer agiert, setzt da an, wo andere ihre Grenzen sehen: "The reason why rock music today is worthless, is because it's only trying to do the possible. But I believe that rock means the impossible, the incomplete." (Haino) Neben seiner Kollaboration mit Oliver Augst arbeitete Haino auch mit John Zorns Painkiller, Thurston Moore, Fred Frith oder Alan Licht (Mandarin Movie) zusammen.
WE TRADED OUR LIEUTENANT FOR HEROIN,
WE SURVIVED THE WAR WITH BUT ONE CASUALITY, AN OVERDOSE. AND WE DIDN´T
HURT NO ONE.
(THE WHOLE WORLD IS WATCHING)
Oliver Augst studierte visuelle Kommunikation mit Schwerpunkt
Bühne
an der Hochschule für Gestaltung/Offenbach und Popularmusik/Performance
an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst/Hamburg. Er erhielt
u.a. das Atelierstipendium des Künstlerhauses Mousonturm (Frankfurt
1991-'93), ein DAAD Stipendium für freie Kunst (Wien 1994) sowie ein
Stipendium für Komposition an der Akademie Schloss Solitude (Stuttgart
1995). 1997 war er Preisträger der Dresdner Tage für zeitgenössische
Musik, wo er mit dem französischen Komponisten Marc André das
gemeinsame Musiktheater-Werk "un fini" zur Uraufführung brachte.
Seine künstlerischen Produktionen u.a. in Zusammenarbeit mit Blixa Bargeld,
Raymond Pettibon, der Technoise Band "freundschaft" oder dem Trio "Blank" (Augst/Carl/Korn)
wurden international auf zahlreichen Festivals für zeitgenössische
Musik und Medienkunst präsentiert. (u.a.: Volksbühne Berlin, Taktlos
Bern, Bregenzer Festspiele, Steirischer Herbst Graz, Intermedium/ZKM Karlsruhe,
Documenta Kassel, Ars Electronica Linz, Whitechapel Art Gallery London, Knitting
Factory New York, European Media Art Festival Osnabrück, Ruhrfestspiele
Recklinghausen, WienModern, Politik im freien Theater Berlin). Für On
Kawara realisierte er zusammen mit Christoph Korn die CD-Veröffentlichung
und Installation "One Million Years" bei der DocumentaXI. Er ist
Gast-Dozent an der HfG Offenbach, Kunsthochschule des Landes Hessen und an
der Fachhochschule Frankfurt. Oliver Augst war Co-Initiator und Kurator von "pol
- Festival neue Musik" am Künstlerhaus Mousonturm in Frankfurt/Main
und kuratiert und leitet zusammen mit Christoph Korn die "Audio Art
Series" ebenfalls am Künstlerhaus Mousonturm.
Marcel Daemgen studierte
Musikpädagogik an der Johann Wolfgang Goethe Universität/Frankfurt
und Tontechnik an der "School of Audio Engineering" (SAE). Seit
1989 arbeitet er als freischaffender Komponist, Produzent und Live-Musiker
in den Bereichen Elektronik-, Noise- und Popmusik, u.a. in Zusammenarbeit
mit Alfred 23 Harth, Thomas Pernes, der Technoise Band "freundschaft", "electronic
music theater" und den TänzerInnen Christine Bürkle und Stephen
Galloway. Als Musiker und Komponist trat er in zahlreichen Städten in
Europa und Amerika und auf internationalen Festivals auf. (u.a. Alte Oper
Frankfurt, TAT-Bockenheimer Depot Frankfurt, Forum Neue Musik Köln,
Fylkingen - Zentrum für Neue Musik Stockholm, Knitting Factory New York,
Künstlerhaus Wien, Wien Modern, Ars Electronica Linz, Akut Festival
Mainz, Zdarzenia Festival Tczew/Polen, Jazz Festival "San Juan Evangelista" Madrid,
Politik im freien Theater Berlin) Er komponierte Ballett-, Theater und Filmmusik
(Hessische Filmpreise 1999 und 2000) sowie diverse Auftragsarbeiten für
Werbung und Popmusik.
Jan-Philipp Possmann ist freischaffender Dramaturg
und Kurator in Berlin, Frankfurt und Amsterdam. Er ist Leiter des Festivals
PLATEAUX - Neue Positionen Internationaler Darstellender Kunst sowie Kurator
der Mannheimer Schiller Tage 2007. Als Dramaturg arbeitete er unter anderem
zusammen mit "Rimini Protokoll", "WILHEM GROENER", "electronic
music theater", sowie den Regisseuren David Weber-Krebs und Oliver Sturm,
dem Choreografen Christoph Winkler und dem Autor Peter Weber.