ELECTRONIC MUSIC THEATER / 1998 – 2009
Musik-, Theater- und Dramaturgiebegriff des EMT
Versuch einer Verortung auf Grundlage eines Texts von Dr. Steffen Schmidt (Institute for Cultural Studies, Züricher Hochschule der Künste)
am Beispiel der Produktion „ICH - Vier Stimmen“, uraufgeführt beim Steirischen Herbst, Graz, 2006
4 Performer, 4 Tische, frontal zum Publikum. 4 Stimmen. Elektronische Klangerzeuger, Mikrophone, Papiere, Bücher, Partituren; Kabelstränge, technische Vernetzung, minimale Eingriffe in Raum und Licht, Nebel.
Musiktheater als Behauptung und Versuchsapparat, Klang und Sprache bilden das Material. Mit unterschiedlichen subjektiven Zugriffstechniken der einzelnen Performer werden die angeeigneten Materialien durch Interaktion, Integration, Ausschluss variabel und spezifisch ausdifferenziert/ausgesprochen. In der live-Performance bilden sich daraus netzartige Archivstrukturen.
Die Performer wechseln permanent zwischen realer und virtueller Identität. Jede Performance weicht von der anderen stark ab. Das Material, vor allem Texte (von John Birke), wird zeitlich und dynamisch immer neu arrangiert; zudem gibt es einen Fundus, aus dem stets neue Textversatzstücke genommen werden; die jeweilige Formgestalt- oder besser: der Zeitverlauf der jeweiligen Performances differiert erheblich. Von Form lässt sich kaum sprechen, der Begriff vermittelt zu sehr Fixiertes, das Material bleibt quasi im flüssigen Aggregatzustand, kochend, brodelnd. Auch von Work in Progress zu sprechen wäre ungenau, es sind weder probenhafte Annäherungen, die das Publikum erlebt, noch ist es Unabgeschlossenes, das einem Abschluss entgegenstrebt, es sind Endresultate.
Jede Performance ist ein vierstimmiges Ich, das sich zwar in der Zeit zu einem Wir-Ganzen verknotet als Simultaneität, aber es wird nicht homogen, es bleibt bei der unaufgelösten und heterogenen Vielstimmigkeit.
Das Ich, was da spricht, vervielfältigt sich, nicht nur in der Vierzahl, sondern auch in der elektronischen Verfremdung, der Aufnahme und auch der Perspektive. Es gibt das Ich, Namen (in Form von Listen), es gibt die virtual community, wo Ich zahllose Identitäten hat.
Und dennoch gibt es im Stimmentumult des EMT die werkhafte Geste des Anfangs und Endes.
ICH - WIR
offene Form, Improvisation:
Wie regelt sich aber die Situation, wenn sich einzelne Stimmen nicht dem harmonischen Gesetz der musikalischen „Gesellschaft“ fügen, stattdessen ein Eigenleben entwickeln, das der Zeit sich nicht enthebt, wenn also die Spur des momenthaften Ausbrechens am Ereignis klebt, wenn, wie gelegentlich in Bachs Fugen, der Kontrapunkt seine Herrschaft in Form einer Halsstarrigkeit des Stimmlichen gegenüber dem Harmonischen behauptet? Ebenso durchgeistigte Schönbergs Atonalität den Widerstand der Stimme gegenüber dem harmonischen Gefüge, des Einzelnen gegenüber dem Kollektiven: Werk als Vermächtnis von Individualität, und als Krise des Zusammenspiels von Ich und Wir.
Doch verbleibt im Werkdenken die Annahme des gesellschaftlichen Soseins, spiegelt den gedanklichen Entwurf im Idealen - mag dieses noch so morbide sein. Dagegen behauptet die Improvisation eine andere Praxis, stellt sich dem Moment, um im nächsten zu verschwinden. Erneutes Auftauchen bedeutet dabei immer ein anderes Erscheinen, das dem Zeitpunkt stärker Rechnung trägt als der Werkfels in der Brandung. Damit einher geht in der Improvisation ein massiveres Ich, das sich zumeist stärker behauptet als das Wir, indem es stilistisch Eigenständigkeit erhebt, sich gerade nicht dem werkhaften Materialdenken unterwirft, sondern, hier vergleichbar mit Atonalität, die problematische Zone von Ich und Wir permanent abschreitet. Improvisation, handelt es sich um den sozialen Akt einer Gruppe, konstituiert sich im quasi sprechenden Dialog, nicht unbedingt als herrschaftsfreier Dialog sondern als ein Herrschaft austragender Dialog, eines gelegentlich ungehemmten An-die-Wand-Spielens, Nicht-zu-Wort-Kommen-lassens, eben die Defekte des Miteinander thematisierend.
Das Zuhören Roland Barthes im Sinne eines „Höre mir zu“, als Resonanz dessen also, was sich somatisch unbewusst ereignishaft mitteilt, wandelt sich bei der Improvisation in „Höre uns zu“, wie nach den Gesetzen musikalischer Kommunikation eine Gruppe entsteht. Eine Gruppe allerdings, die nicht homogen sein will, sondern auf dem Primat des Ichs beharrt, um nur in bestimmten Momenten und vorübergehend zum Wir zu verschmelzen. Improvisierte Musik und improvisiertes Theater besitzen den Vorzug, das Heterogene, die unbeugsame Selbständigkeit der Stimme ausdrücken zu dürfen, in Gesten des sich Sträubens, sich Verweigerns, des Andersseins. Um es mit Gumbrecht zu sagen, partizipiert Improvisation mehr an einer Präsenzkultur als an einer Subjektkultur. Der improvisierende Musiker repräsentiert und behauptet auch immer seinen Körper gegenüber der Gruppe, er stellt ihn aus und dieser kann für sich genossen, kaum aber werkhaft funktional interpretiert werden.
Aus der Nähe zur Präsenzkultur erwächst auch die Affinität der Improvisation zum Sport, zum Spiel, zur offenen Form. Das plötzliche Entstehen ungeahnter Spielzüge ist jeder gelungenen Improvisation inhärent, jener geheimnisvollen Mischung von Geübtem und Spontanem, wo die Abweichungen von Millimetern in Raum und Zeit einen Komplex gestalten, der jeder Notier - und Planbarkeit trotzt, im Gelingen ebenso wie im Scheitern.
Improvisation akzentuiert gegenüber der Interpretation das Moment des Spielerischen. Während Werkmusik das Rituelle hervorhebt, wandert Improvisation im Gebiet des Alltäglichen, arbeitet mit Formeln, mit deren Gebrauchswert. Improvisation steht nicht in der Tradition einer Fortschreibung des Neuen, vielmehr im Zeichen der „bricolage“ im Sinne von Levi-Strauss: „ … Wie die „bricolage“ greift das Spielzeug auf „Bröckel und Versatzstücke zurück … So verwandelt auch das Spielzeug alte Signifikate in Signifikanten und umgekehrt. Aber in Wirklichkeit wird nicht nur mit diesen Bröckeln und Versatzstücken gespielt, sondern … mit ihrer Bröckelhaftigkeit selbst …“ . Darin erkennt Agamben das „Historische im Reinzustand … dass das Spiel jenen Bezug zwischen den Gegenständen und den menschlichen Verhaltensweisen herstellt.“
Die Technik der Improvisation gelangt durchs Spiel ins Reich des Kindes zurück, ein rückwärtiger Gang in die Ichzeit, ein Spiel mit der eigenen Geschichte und dem eigenen Schicksal.